Der verlorene Chorsohn

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Kaninchen

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3.)  Der verlorene Chorsohn 
 
Wenn der Kirchenchor auftrat, war im Gotteshaus richtig was los. Da wollten z. B. 
auch inaktive Ehepartner das lange Geprobte in Vollendung miterleben. Martin 
konnte  ebenfalls  problemlos  zuhören  und  erinnert  sich  nicht,  dabei  mit  seinen 
Freunden jemals Blödsinn getrieben zu haben. Vielleicht lag es auch daran, dass 
sie an solchen Tagen auf der gegenüberliegenden, nicht vertrauten Empore sitzen 
mussten, weil der große Chor die gewohnten Plätze der Jugend in Anspruch nahm. 
Es war jedoch nicht nur das hemmende Gefühl der Fremde. Zweifellos scheuten 
sie auch die gestrengen Blicke der mitsingenden Mütter vis-à-vis sowie von Herrn 
Staudt, ihrem Lehrer. Außerdem konnten sie von dort aus nicht in die Presbyter-
logen sehen und 'schießen', was doch sonst ihr größtes Gottesdienstvergnügen war. 
Trotzdem fanden sie sich gern ein, denn der schöne Gesang gefiel ihnen; da der 
Chor im Ernstfall nie patzte, fehlte jeder Anlass für Witzeleien und abfällige Be-
merkungen. Martin glaubt sogar, dass er ihm den kulturellen Höhepunkt seiner 
frühen Jugend verdankt: Als nämlich einmal das Gustav-Adolf-Fest in der Ge-
meinde abgehalten wurde, kamen protestantische Chöre mit Bussen aus anderen 
Dörfern  angereist.  Es  fand  ein  richtiger  Sängerwettstreit  statt,  der  ihn  mächtig 
beeindruckte. Zum Schluss sangen alle gemeinsam: 'Heilig, heilig, heilig ist Gott 
der Herr'! Das ging ihm durch Mark und Bein. Möglicherweise datiert von daher 
seine ketzerische Einstellung, dass Gottesdienste am besten nur aus Lob- und Bitt-
gesängen mit eingestreuten Bibellesungen bestehen sollten! Auf Privatmeinungen 
der Pfarrer über Gott und die Welt könne man getrost verzichten. Er will damit 
deren ernsthaftes Bemühen nicht in Abrede stellen. Doch wer kann schon so mit 
Vollmacht predigen wie der Herr, als er bei uns auf Erden weilte? Auf diese Voll-
macht Gottes kommt es jedoch nach Martins Verständnis entscheidend an, damit 
das Predigen nicht vergeblich ist. Irgendwo auf einer Südseeinsel erlebte er später  
einen solchen Singgottesdienst, über drei Stunden, und niemand schlief ein! 
Eigentlich hatte Martin fest vor, sofort nach dem Stimmbruch aktiver Kirchen-
chorsänger zu werden; er konnte es kaum abwarten. Doch es kam leider etwas 
dazwischen, was schon vor seinem Eintritt zum Ausschluss führte, obwohl er im 
Grunde gar nichts oder nur wenig dafür konnte. Weil sie doch den Chor so gerne 
hörten,  schlich  er  sich  des  Öfteren  mit  seinen  Freunden  die  altbekannte  Holz-
treppe hoch an die Tür des Schulsaales, wo mittwochabends regelmäßig geprobt 
wurde. Je nachdem wie es im Inneren lief, lauschten sie genüsslich oder belustigt. 
Einmal,  im  Spätherbst,  als  man  schon  für  Weihnachten  übte,  ging  es  ziemlich 
durcheinander.  Während  Sopran,  Alt  und  Tenor  wohl  richtigerweise  'Hosianna' 
sangen, brummte der Bass unüberhörbar 'Halleluja' dazwischen: Deshalb konnten 
draußen vor der Tür einige der Spanner das Lachen nicht unterdrücken und schon 
hatte man es drinnen vernommen. Schlagartig verstummte der Gesang. Beherzte 
Männerschritte eilten heran. Überstürzt floh die ganze Meute polternd die Treppe 
hinunter. Doch für Martin war es bereits zu spät, denn er stand ganz vorne, das 
Ohr am Schlüsselloch. Nun war aber das Schloss von älterer, sehr stabiler Bauart 
und kurioserweise außen auf die Tür geschraubt. Einen Schlüssel gab es offenbar 
schon lange keinen mehr, so dass er selbst der Putzfrau Grete nicht gedachte. Es 
genügte ja auch, unten im Erdgeschoß beide Ausgänge zu Straße und Hof gut 
abzuschließen, was im Falle des Chores dem Dirigenten oblag. Aber an besagtem 
Schloss zum Schulsaal b
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hätte man den Burschen am Wickel gehabt, denn haargenau im selben Augenblick 
drückte schon jemand energiegeladen und kraftvoll die Klinke herunter, um mutig, 
wie im Krieg beim Häuserkampf, herauszustürmen. Doch  daraus wurde erst mal 
nichts, denn der Riegel hielt, was er versprach! Man konnte nur noch, und tat es 
auch, auf das Heftigste rütteln und mit rauer, keinesfalls chorfähigen Stimme den 
sinnlosen  Befehl  erteilen:  "Aufmachen,  sofort  aufmachen,  sonst  rufen  wir  die 
Polizei!" Besser hätte man in Vertrauen erweckendem Tenor geflötet: "Bitte bitte 
öffnen, wir garantieren  eine Minute Fluchtvorsprung - Ehrenwort!" Auf diese 
rettende Idee kam in dem einsetzenden Stimmengewirr sämtlicher Tonarten jedoch 
niemand. Dabei hätte es der flinke Martin schon für eine halbe Minute getan! So 
aber  musste  sich  dieser  aus  Gründen  der  Selbsterhaltung  mehr  oder  weniger 
beklommen davon machen. Vor irgendeiner Polizei war ihm nicht bange, denn 
eine solche gab es im Dorf überhaupt nicht und im Schulsaal kein Telefon. Aber 
Leid tat es ihm, hatte er doch den  hoch gelobten Kirchenchor von Luthershausen 
samt seiner eigenen Mutter ausbruchsicher eingesperrt. Einen zweiten Fluchtweg 
gab es nicht. Zwar wurde immer behauptet, man könne notfalls am Fallrohr der 
Regenrinne hinunterrutschen, aber Martin wusste, dass kein einziger Chorsänger 
dazu  imstand  gewesen  wäre,  die  Sängerinnen  mit  ihren  guten  Kleidern  am 
allerwenigsten. Ja sogar er selbst hatte sich seinerzeit nicht getraut, als er noch zur 
Volksschule  gehörte:  Der  Lehrer  schob  außen  den  bewussten  Riegel  vor,  ging 
gemütlich zum Mittagessen und ließ ihn allein nachsitzen, übrigens zu Unrecht; 
denn nicht er hatte, als dieser aus gegebenem Anlass das Wort 'Kaninchen' mit 
einfachem 'i' an die Tafel schrieb, unter der Bank an der hölzernen Ranzenablage 
jeweils  zwischen  Zeige-  und  Mittelfinger  der  rechten  und  linken  Hand  das 
monotone Trommeln des Stallhasenbocks beim Decken einer Häsin nachgeahmt, 
sondern sein Nachbar, Winters Alfred. Aber dies war längst vergessen und ver-
ziehen.  Unangenehm an jener Geschichte war nur, dass sie ihn zu Hause in arge 
Erklärungsnot brachte. Zuerst versuchte er sich mit der Lüge aus der Affäre zu 
ziehen, der Herr Lehrer habe vergessen, pünktlich Schluss zu machen. Das hielt 
Mutter jedoch für gänzlich unwahrscheinlich wegen der lauten und anhaltenden 
12-Uhr-Schläge der nahen Turmuhr, die ja auch während der Chorproben stets 
unüberhörbar in den Ohren dröhnten. So half es nichts, dass Martin einwandte, der 
Herr Lehrer habe zu dieser Zeit kräftig auf dem Harmonium gespielt, und alle 
mussten  sehr  laut  den  Kanon  mitsingen,  damit  es  die  Bauern  im  ganzen  Dorf 
hörten und nicht die anstehende Ernte verschliefen: 
Hejo, spann den Wagen an, 
denn der Wind treibt Regen übers Land. 
Hol die goldnen Garben! Hol die goldnen Garben! 
 Als Mutter dann auf andere Kinder verwies, die sie schon wie gewohnt früher 
nach Hause gehen sah, gab er als Verantwortlicher für die Seidenraupen diesen die 
Schuld: Er musste ihnen heute soo lange gut zureden, bis sie endlich fraßen. Doch 
Sanne hatte längst bemerkt, dass etwas faul war und bohrte nicht weiter, damit aus 
seinem Lügengebäude kein Wolkenkratzer werde. Dabei wäre  die reine Wahrheit 
zu  seinen  Gunsten  gewesen;  aber  wie  sollte  er  ihr  dies  erklären?  In  der 
Kaninchenzucht kannte sie sich doch überhaupt nicht aus. Jetzt stand aber mehr 
auf  dem  Spiel,  nämlich  seine  ganze  zukünftige  Karriere  als  christlicher  Chor-
sänger. Leicht bedrückt gesellte er sich zu seinen Kumpanen, die gegenüber im 
dunklen  Winkel  gespannt  auf  ihn  warteten.  Als  man  erfuhr,  was  sich  oben 
zugetragen hatte, beschloss man noch etwas zu bleiben, um zu sehen, wi
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Hochgeschätzter Dirigent war seit eh und je der selbe Lehrer Staudt, der auch 
recht gut geigte und aus dem alten Harmonium noch Erstaunliches herausholte. 
Alle  Eingeschlossenen  dachten  zunächst,  er  wisse  wohl  schon  irgendwie  Rat. 
Doch der war hier teuer! Seiner Frau konnte er nicht rufen; d.h. gekonnt hätte er 
schon,  aber  wozu?  Sie  saß  ja  vor  ihm  mitten  im  'Gefangenenchor'.  Die 
rückwärtigen Fenster gingen zu den Feldern, auf denen abends um 10 Uhr kein 
Mensch mehr arbeitete. An die vorderen zur Straßenseite hin kam man wegen der 
davor installierten Wandtafel, der Rechenmaschine und dem Harmonium schwer 
heran. Es hätte auch wenig Zweck gehabt wegzuräumen, um sich bemerkbar zu 
machen; denn in dem breiten Gehöft gegenüber, einst ein Musterbetrieb, wohnte 
die  Beckin,  früher  eine  tüchtige  Bäuerin;  aber  dann  kam  der  unselige  Krieg. 
Zunächst fiel ihr Mann, bald darauf der erste Sohn und schließlich auch noch der 
zweite und letzte. Seitdem war sie nicht mehr recht bei Trost und wurde von ihrer 
alten, schwerhörigen Mutter betreut, statt umgekehrt. Wer wollte sich dorthin um 
Hilfe wenden!?  Die Nordseite, wo früher das Führerbild hing, heute aber der von 
allen, besonders von Martin, immer wieder bewunderte 'Hase' von Albrecht Dürer, 
besaß als Zwischenwand zum Treppenhaus keine Fenster. Folglich blieb nur die 
Südseite  Richtung  Schuhmacherei.  Tatsächlich,  schon  rüttelte  man,  leicht 
gewaltsam, an einem der verklemmten Glasrahmen, die sonst wegen des pene-
tranten Bockgeruches stets verschlossen blieben; gelüftet wurde immer nur von 
hinten. Die seitlichen Scheiben waren außerdem in der unteren Hälfte weiß zu-
gekalkt,  'damit  nicht  jeder  Esel  seine  langen  Ohren  hinaushängen  kann', 
behauptete  der  Schulmeister  in  einem  genervten  Augenblick  auf  Martins  echt 
saudumme Frage (was hatte er nur gegen Esel?). In Wirklichkeit sollte dadurch der 
Ausblick auf den Hof nebenan verwehrt werden, wo sich wegen des öffentlichen 
Ziegenbocks  weitaus  interessantere  und  lustigere  Vorgänge  abspielten  als  das 
kleine und große Einmaleins; doch dafür müssten sie 'erst konfirmiert sein', meinte 
der  Pädagoge  wiederum  auf  Martins  noch  saudummere  Frage,  wozu  denn  ein 
Bock überhaupt gut sei, wenn er doch keine Milch gebe!? 
Dies alles ging dem Burschen jetzt nochmals durch den Kopf, während man von 
oben die wenig verheißungsvolle Feststellung vernahm, dass drüben in der Schuh-
macherei kein Licht mehr brenne. Der Meister hämmerte ja prinzipiell nur tags.  
Auch Suleiman, der prächtige Bock, hatte jetzt nichts mehr zu tun, er stank nur ge-
mächlich vor sich hin. Nichtsdestotrotz entschloss man sich, laut zu rufen. Lange 
regte  sich  nebenan jedoch  nichts,  nur  Suleiman begann  verträumt  zu  meckern; 
vielleicht waren das aber auch die Geißen, von der Schusterin der Milch wegen 
gehalten. Eigentlich wollte man inzwischen schon zu Hause sein, deshalb klangen 
die Hilferufe zunehmend verzweifelter. Zum Glück war es im Schulsaal über dem 
Bürgermeisteramt  noch  gemütlich  warm,  nicht  wie  in einem  feucht-kalten 
Gefängnis. Endlich ging drüben Licht an; man hörte das Öffnen  eines Fensters zur 
Straße und langsam bewegte sich der  Klappladen davor. Schließlich wurde auch 
ganz,  ganz  vorsichtig  ein  unfrisierter  Kopf  nachgeschoben.  Die  Schustersfrau 
wollte jedoch den Erklärungen von rechts oben lange keinen Glauben schenken, 
zumal sie nur hören, aber nicht hinaufsehen konnte. Sie fürchtete eher einen bösen 
Bubenstreich, oder gar, dass ihr einer was antun wollte, z.B. ein Fremder, der sie 
und ihren Ziegengeruch nicht kannte. Endlich begriff sie das wahre Ausmaß sowie 
die Umstände der Tragödie und erklärte sich trotz Dunkelheit bereit zu kommen, 
müsse sich nur noch ihren Seelenwärmer überziehe
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tor öffnete, wurde sie von einem auf der Straße bellenden 'Hund' heftig erschreckt 
und zog sich rasch wieder zurück. "I ka ned naus", rief sie nach oben, "da isch'n 
Hond!" Es war aber der Krügerle Schorsch im Winkel, der das Gebell trefflich 
imitieren konnte, besonders bei Nacht. "Waart, i klopf mal gschwend d'r Frieda", 
ließ sich die Schusterin hinter dem sicheren Tor wieder vernehmen. Dies konnte 
sie bei ihrer Nachbarin vom Hof aus, und gleich darauf hörte man ihr Pochen und 
bruchstückhaft, wie erneut die Situation ausgebreitet wurde. 
Für die inzwischen wie auf glühenden Kohlen sitzenden Chorleute dauerten diese 
Minuten schier ewig; man hörte Albert, den Glöckner, durchs offene Fenster sa-
gen: "Komm, mir üben halt noch a bissele!" Aber niemand schien Lust zu haben, 
weder  zum  Singen,  geschweige  denn  um  hier  die  Nacht  zu  verbringen.  Alle 
wollten nur noch heim! Es zeigte sich jedoch, dass das Sprichwort 'Wo eine Villa 
ist, ist auch ein Weg', nicht immer zutrifft. Doch endlich erschien Frieda, deren 
Courage jeder kannte und die zweifellos auch wusste, dass bellende Hunde nicht 
so schnell beißen. Da war sofort klar, dass dieses völlig unberechtigte Nachsitzen 
des protestantischen Kirchenchores von Luthershausen nun ein Ende haben würde, 
wie so vieles im Leben. Deshalb rannte jetzt auch die ganze Lausbubenbande im 
Karacho durch die dunkle Dorfstraße auf und davon. Hoch hinter ihnen erhob sich 
ein Durcheinander von Schreien: "Da schbrengen se, halted se!!" Aber niemand 
hielt sie, zumal sie sich bald vereinzelten und jeder seinen Lauf erst am eigenen 
Hoftor abstoppte. Martin schlich vom Windfang aus sofort auf Socken die Stiege 
hoch, ohne die in der Küche sitzende Tante Martha beim Lesen des Bistumsblattes 
zu  stören  und  verschwand  tief  in  Kissen  und  dickem Federbett.  Gleich  darauf 
vernahm er auch schon Mutters schnellen Schritt auf der Straße, das Abschließen 
des Hoftores und die erwarteten Fragen an Tante Martha. Dann kam sie sofort 
ungestüm die Treppe hoch, öffnete aber doch leise die Tür zu seinem Zimmer und 
näherte sich behutsam dem Bett; erst als sie ihren 'braven' Martin ganz deutlich 
fest schlafen sah,  ging sie beruhigt hinaus. 
Dennoch hat man ihm auch diese Geschichte wieder angehängt. Sein alter Freund 
Albert fragte ihn später einmal vertraulich im Kirchturm: "Bisch du's wergli gwä? 
Meer kaaschd's saga, i vrpfeif di ned! Ond deeß isch no scho vrsurrt!" Als er aber 
hörte, dass sie untereinander ausgemacht hätten, niemals etwas zuzugeben, respek-
tierte er es, ebenso seine Entscheidung, lieber vorerst noch nicht dem Chor beizu-
treten,  denn  er  wusste  genau,  dass  es  dort  doch  Nachtragende  gab,  bei  denen 
Derartiges so schnell nicht versurrt (= vergessen wird). 
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