Feiertage in Luthershausen

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5.)  Feiertage in Luthershausen 
 
Die  großen  christlichen  Feste  Weihnachten,  Ostern, Pfingsten  und  Kirchweih 
begingen alle Dorfbewohner gleichermaßen. Einige andere Feiertage bereiteten 
Martin lange Zeit Kopfzerbrechen: Weshalb machten die Katholischen nicht an 
Buß- und Bettag mit? Warum verweigerten sich die Protestanten an Allerheiligen 
und Fronleichnam? Keiner konnte ihm das so recht erklären, es war eben so! 
Hauptsache die Geistlichen wussten es und setzten keine falschen Gottesdienste 
an; man stelle sich das einmal vor!! Gegenseitige Rücksichtnahme war jedoch 
selbstverständlich;  weder  gingen  die  Katholiken  an Buß-  und  Bettag  der  ge-
wohnten Feldarbeit nach, noch polterten an Fronleichnam protestantische Pferde-
wagen durch die Dorfstraßen. Höchstens wurde zu Hause in den geschlossenen 
Scheunen etwas herumgewerkelt, ohne Lärm, so halb in Sonntagskleidern und 
ohne Mist an den Schuhen. Fuhr doch mal einer noch schnell aufs Feld, weil er 
vielleicht am Vortag versäumte, genug Futter fürs Vieh heimzuholen, dann auf 
keinen  Fall,  während  die  anderen  zur  Kirche  gingen oder  prozessionierten, 
sondern schnell noch vorher. Er musste sogar damit rechnen, dass dies eigene 
Glaubensbrüder missbilligten, mit der abfälligen Bemerkung, dass er wohl eines 
Tages auch noch genug bekäme. 
An Fronleichnam fand in Luthershausen immer eine Prozession statt, trotz der 
nur wenigen Katholiken. Diese  erhielten dann  viel Verstärkung von auswärts, 
insbesondere  aus  Maria-Josefingen.  Daher  lohnte  es sich,  auch  durch  ein 
protestantisches Dorf zu ziehen, ähnlich wie mit umgekehrten Vorzeichen bei den 
protestantischen Oraniern in Irland. Zwischenfälle gab es in Luthershausen je-
doch keine, mit einer einzigen Ausnahme bald nach dem grausamen Krieg mitten 
in  der  Hungerzeit.  Während  damals  Hochwürden  im  feierlichen  Ornat  am 
Straßenaltar vor einem katholischen Haus dem langen Zug der auf dem Kopf-
steinpflaster Knienden die Monstranz zeigte, wurde aus einem protestantischen 
Giebelfenster genau gegenüber ein prall gefüllter Presskopf an einer Stange bau-
melnd herausgehalten;  das war natürlich eine Sauerei! Es hielt sich sodann hart-
näckig das Gerücht, Martin sei maßgeblich daran beteiligt gewesen. Dabei hatte 
doch gerade er, Tante Marthas wegen, die bei ihnen wohnte und gut katholisch 
war,  das  eigene  Haus  soo  schön  geschmückt.  Alle  großen  Heiligenbilder  und       
-figuren, deren er habhaft werden konnte, nagelte er außen an die Giebelfront 
oder  stellte  sie  auf  die  Fenstersimse.  An  der  Bachwiese  rupfte  er  Körbe  voll 
frisches Gras und streute es auf die Straße davor, darüber duftende Rosenblätter, 
die  er  dem  eigenen  Garten  entnommen  oder  bei  Nachbarn  geklaut  hatte.  Mit 
frisch-grünen  Birkenstämmchen  aus  dem  Wäldchen  verkleidete  er  Hausecken, 
Torpfosten sowie das Fallrohr der Regenrinne, bloß um der vorbeiziehenden Pro-
zession  zu  zeigen,  dass  hier  auch  jemand  Katholisches  wohnt.  Und  dies  war 
Tante Martha, eine gebrechliche, alte Frau, für die er alles tat und sie für ihn. 
Das  Gras  stammte,  wie  erwähnt,  vom  Bachrain,  wo  Martin  gewöhnlich  auch  
Kaninchenfutter  holte.  Dort  geriet  er  immer  wieder mit  der  Frau  des  Dorf-
schusters in Konflikt. Der Grünstreifen entlang des Wiesenbaches in einem ab-
gelegenen Gemarkungsteil gehört nämlich der Gemeinde, die ihn seit eh und je  
an  den Halter des öffentlichen Ziegenbocks vergibt, damals eben an den einzi-
gen Schuhmacher im Ort, der Anton Bühle hieß. Weshalb ihm boshafte Leute in 
den  Mund legten: "Mein Name ist Bock, garantiere für jeden Sprung", verstand 
Martin bald. Der richtige Bock hieß  aber Suleiman, zuständig für alle  heißen 
Ziegen von Luthershausen und Sankt María-Josefingen. Das waren während des  
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Krieges sowie unmittelbar danach nicht gerade wenige; doch er schaffte sie alle, 
souverän und majestätisch, ohne lange nach der Konfession zu fragen. Es war in 
der Tat ein prächtiger Kerl mit starkem Gehörn und einem Beutel fast bis auf den 
Boden, nicht umsonst ein 'Gekörter', also offiziell als Zuchtbock anerkannt. Im 
Gegensatz zu seinem berüchtigten Istanbuler Namensvetter brauchte er zur Er-
füllung  seiner  Pflichten  keine  in  Frauenkleidern  eingeschmuggelten  zwei-
beinigen Böcke, wie man in Lustfilmen gern zur allgemeinen Ergötzung zeigt, 
und auch keine Eunuchen mit verborgenen Leistenhoden. Martin war in einem 
seiner  Bücher  auf  diese  ungesunden  Zustände  im  Topkapi-Palast  gestoßen, 
machte sich kundig und erheiterte damit seine Clique in der Winterhöll, einem 
dichten  Wäldchen  am  Ende  der  Gemarkung.  Nach  tiefschürfender  Diskussion 
gelangte  man  dort  zur  einhelligen  Auffassung,  dass dieser  Sultan  sich  über-
nommen  hatte  und  es  ohne  die  heimlichen  Nothelfer  sicherlich  zu  einer 
Palastrevolution unter den 400 (vierhundert!) Haremsdämchen gekommen wäre. 
Unter  allgemeinem  Beifall  meinte  einer  aus  der  Gesprächsrunde,  dass 
Klassenkamerad Alfred Winter dort wohl sehr gefragt gewesen wäre, was dieser 
auch sofort begeistert bejahte; ein modisches Miniröckchen hätte er aber beim 
Einschleichen  wegen  seines  ungewöhnlich  langen  Zipfels  nicht  tragen  dürfen. 
Ihre Bubenfantasie reichte also bis an den fernen Bosporus. 
Im heimischen Luthershausen lagen sie aber lediglich auf dem Bürgersteig, wenn 
eine  der  fröhlich  meckernden  Ziegendamen  zugeführt wurde.  Nachdem  sich 
hinter dieser stets das Tor zur Schusterei schloss, lugten sie gespannt durch den 
Spalt am Straßenpflaster. Die ganze Zeremonie spielte sich nämlich im Hof ab, 
nicht  im  Stall;  vermutlich  hätte  sonst  der  hauseigene  Harem  vor  Eifersucht 
revoltiert.  Der  Meister  führte  den  stolz  aufgerichteten  Bock  am  kurzen  Zügel 
heran, und Otto, der Lehrbub, musste diesem dann zeigen, wo es bei den Zicken 
hinten langgeht. Darüber lachten sich die Spanner unterm Tor halbtot, denn Otto 
war ein linkischer Kerl, ein richtiger Drallewatsch und Hahnebambel, den der 
Schuhmacher nur deshalb in die Lehre nahm, weil zu dessen Vater eine enge 
Freundschaft  bestand.  Für  die  übrige  Dorfjugend  war  er  auch  sonst  nur  eine 
Lachnummer, aber hier, wo er zwischen Bock und Geiß vermitteln sollte, stellte 
er sich geradezu atemberaubend tapsig an, besonders wenn die Zottelmädchen 
erst noch einige Sperenzles machten und um ihre Führer herumtanzten, so dass 
sich  der  Strick  verwickelte.  Zum  Glück  blieben  sie dann  aber  meistens  er-
wartungsvoll  stehen,  die  katholischen  genauso  wie  die  protestantischen  usw., 
sonst  hätte  weder  hier  in  Luthershausen  noch  drüben  in  St.María-Josefingen 
jemals  ein  Mensch  Zickeles  bekommen;  weibliche  durften  gewöhnlich  ihrer 
späteren Milch wegen aufwachsen; männliche wanderten von allen geschätzt in 
den Fleischtopf. 
Wenn Martin und Konsorten später dem Otto auf der Straße begegneten, hänsel-
ten  sie  den  armen  Kerl  und  empfahlen  ihm,  es  doch  selber  zu  machen,  dann 
gäben es vielleicht sieben junge Geißlein wie im Märchen. Doch der Schuster-
lehrling, längst daran gewöhnt, lachte gutmütig mit, denn er war auch mit Wor-
ten noch lange kein Meister, und man konnte ihn am ersten April  spielend leicht 
losschicken, den sagenhaften dicken 'Wolpertinger' zu fangen, ein Fabeltier, das 
angeblich in den Feldern um Luthershausen sein Unwesen treibt. Wahrscheinlich 
hätte sich der erfahrene Suleiman nach einigen Fehlversuchen auch alleine zu-
rechtgefunden, aber dem Schuster ging alles nicht schnell genug, deshalb musste 
der  Lehrbub  mit  ran.  Vielleicht  glaubte  der  Bühle  auch,  dass  dies  zu  dessen 
Ausbildung gehörte; schließlich war man doch
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brot angewiesen, zumal auf dem Land, wo viele den ganzen Sommer über bis 
weit  in  den  Herbst  hinein  barfuß  liefen,  besonders die  Kinder.  Ja,  käme  mal 
wieder eine Eiszeit, könnte man möglicherweise auf das Bockhalten verzichten 
und  bei  seinen  Leisten  bleiben.  Jedenfalls  war  solch  ein  Ziegenakt  reine 
Männersache, die Meisterin stand unterdessen in der Stalltür. Einerseits rief sie 
den aufmuckernden eigenen Geißen im Innern beruhigende Worte zu, anderer-
seits erklärte sie dem Otto immer wieder laut und gestenreich, was er dabei tun 
und lassen sollte. 
Im Grunde war sie aber nur für das Futter zuständig, und eben deshalb geriet sie 
öfter  mit  Martin  unten  am  Bachrain  aneinander.  Sie kam  stets  mit  ihrem 
Bordkarren, ähnlich einem Leiterwägele, nur rundum geschlossen, so dass sie das 
mit einer Sichel abgeschlagene Gras einfach hineinwerfen konnte. Martin war 
lediglich mit einem großen Kartoffelsack ausgestattet; er hatte viele Kaninchen 
zu versorgen, die ihm sein Vater hinterließ, als er in den Krieg musste. Sobald die 
beiden  'Nahrungskonkurrenten'  in  Rufnähe  kamen,  begann  die  Schusterin  mit 
ihrer Litanei, dass dieses Gras ihr gehöre und er schleunigst verschwinden solle. 
Nun  gab  es  in  der  weiten  Flur  auch  andernorts  genug  Kaninchenfutter,  aber 
entlang des Wasserlaufs war es besonders saftig sowie schön mit Löwenzahn und 
wildem Klee durchsetzt; das schmeckte nicht nur den Ziegen. Einmal ließ sich 
Martin  in  sicherem  Abstand  auf  eine  längere  Diskussion  ein,  wobei  er 
unmissverständlich darauf hinwies, dass sie dieses Gras eigentlich nur dem Bock 
geben dürfe, denn nur der sei gemeinnützig. Er habe aber, als er Schuhe zum 
Besohlen brachte, genau gesehen, dass sie damit auch die Geißen fütterte. Ihren 
Einwand, dass sie das Gras für die Ricken ja im Bruch hinter dem Wäldchen 
hole, ließ er nicht gelten, obwohl sie den Feldschütz und die dort stationierten 
Flaksoldaten als Zeugen aufbieten wollte. Er kenne das Gras von hier und dort 
ganz genau; ihm könne sie nichts vormachen und was für die Hippen recht ist, sei 
für seine Kaninchen billig. Das aber nahm sie nun wiederum nicht hin, drohte 
ihm mit Prügel, mit ihrem Mann und dem Feldhüter, ja sogar mit dem Gendarm. 
Doch  Martin  ließ  sich  nicht  vertreiben,  zog  sicherheitshalber  immer  nur  ein 
Stückchen rainweiter, so dass ihre Würfe mit Erdschollen ihn nicht erreichten. 
Ansonsten rupfte er seelenruhig weiter und strafte sie fortan mit Verachtung. Ihr 
Gekeife  nahm  jedoch  allmählich  ungebildete  Formen  an;  dass  er  ein 
'Dreckbankert' und ein 'richtiger Babbsack' sei, den sie schon erwischen werde, 
nahm er noch gelassen hin; das hatten ihm andere auch schon gesagt. Aber als sie 
ihn  wutbebend  und  gebissfletschend  einen  'stinkenden  Karnickelbock'  nannte, 
ging sie entschieden zu weit! 
Martin unterbrach seine Arbeit und richtete sich langsam auf; das schlug nämlich 
'dem Fass die Krone mitten ins Gesicht'! Über seine Kaninchen ließ er nämlich 
gar nichts kommen, die pflegte er vorbildlich wie zuvor sein Vater. Zunächst 
wollte er ihr einmal in aller zornverhaltenen Ruhe klar machen, dass gerade sie 
vom Stinken besser nicht anfange, weil man ja schließlich bei ihr den Bock glatt 
auf hundert Schritte, selbst mit dem Wind im Rücken, rieche. Darüber hätte er ihr 
gut  und  gern  einige  Kosenamen  preisgeben  können,  die  im  Dorf  die  Runde 
machten; doch hoch aufgereckt und mit Überblick kam ihm urplötzlich ein ganz 
anderer  Gedanke.  Um  ihn  aus  ihrem  Revier  zu  verscheuchen,  hatte  sie  sich  
unvorsichtigerweise ein gutes Stück von ihrem bereits halb vollen Wagen ent-
entfernt,  Martins Sack aber war noch ziemlich leer. Schnell ergriff er diesen, 
rannte im Bogen an der Schrapnell vorbei zu ihrem unbewachten Gefährt, riss es 
an der Deichsel
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hielt er atemlos an und begann hastig aus dem Karren sein Behältnis voll zu 
stopfen,  so  viel  nur  hineinging.  Die  entsetzte  Ziegenmutter  versuchte  zwar 
eilends und wild mit der Sichel fuchtelnd heranzukommen, war jedoch viel zu 
lahm. Dabei schrie sie aus vollem Hals Zeter und Mordio, dass es nur so durch 
die Gemarkung gellte. Es befand sich aber nur ein einziger Bauer in der Nähe 
beim Pflügen; der hielt kurz inne und fragte herüber, was passiert sei. Mühsam 
begriff  er,  was  die  Bühlen  da  im  Laufen  herauskeuchte,  riet  dann  aber,  den 
'Saubengel' festzuhalten, bis er käme, um ihm 'das Kreuz auszuhängen'; er müsse 
bloß noch schnell ans Ackerende umbrechen und seinen Gaul am Pflugskarch 
festbinden, da der  ihm sonst nachliefe. 
Martin beunruhigte dies nicht, zumal er von dem angeborenen Klumpfuß dieses 
Mannes  wusste,  der  deshalb  nicht  der  Schnellste  war  und  auch  vom  Barras 
verschont wurde. So blieb dem Burschen genügend Zeit, seine Untat hastig zu 
vollenden, den nun prallen Sack zu schultern und eilends Fersengeld zu geben. 
Daheim  angekommen  schloss  er  vorsichtshalber  das  übermannshohe  Hoftor 
hinter sich ab. Es war sonst niemand zu Hause; Mutter arbeitete irgendwo auf 
dem  Feld  und  Tante  Martha  schlappte  um  diese  Zeit  gewöhnlich  zur  alten 
Mayerbas  hinüber,  um  ihr  Gesellschaft  zu  leisten.  Der  angeblich  'stinkende 
Karnickelbock'  befürchtete,  dass  die  Geprellte  nachkäme,  um  ihr  Gras 
zurückzufordern. Für diesen Fall wollte er auf  deren Klopfen von hinter dem 
sicheren Tor aus nur zusammen mit seinem 'Bubi' wütend bellen. Doch es kam 
nicht dazu; denn die alte Drude war offenbar andernwegs heimgezogen zu ihrem 
Stinkbock, erzählte dann aber jedem, der Schuhe brachte oder bockige Ziegen, 
das schreckliche Erlebnis. Die Leute taten entrüstet, schlugen die Hände über 
dem Kopf zusammen und schimpften über die heutige Jugend. Im trauten Kreis 
amüsierten sie sich jedoch darüber. 
Da  die  Schule  direkt  neben  der  Schuhmacherei  liegt und  umgekehrt,  kam  es 
natürlich auch Herrn Staudt zu Ohren. Er versprach der untröstlichen Nachbarin, 
sich Martin vorzuknöpfen, was dann auch geschah. Aber dieser verteidigte sich 
energisch mit der unter objektiven Menschen nicht von der Hand zu weisenden 
Feststellung, dass seine Kaninchen gleiches Recht am Bachgras hätten wie die 
Ziegen. Nur  dem  Bock  räumte  er  wiederum  ein  Privileg  ein,  doch  der  fresse 
immer  nur  den  geringeren  Teil  einer  Wagenladung,  das  meiste  bekämen  die 
Geißen. Er habe es genau festgestellt, und wenn der Herr Lehrer das nicht glaube, 
sollte er mal heimlich beobachten, dann sähe er es zweifelsfrei. Auf der nur zwei 
Meter hohen Grenzmauer zur Schusterei würde er ihm eine Stelle zeigen; wenn 
sich der Herr Lehrer dort drauf auf den Bauch lege und den Kopf drüben etwas 
herunterhängen lasse, könne er den Ziegenstall gut überblicken und alles, was 
darin  vorgeht.  Das  dunkelgrüne,  saftige  Gras,  vermischt  mit  breiten  Löwen-
zahnblättern  und  dicken  Kleeblumen,  stamme  vom  Bachrand,  das  graue  mit 
Knöterich  und  verschimmelten  Sauohren  dagegen  eindeutig  vom  trockenen 
Bruch hinter dem Wäldchen. Alle anderen Schülerinnen und Schüler, die nur ein 
bisschen  Ahnung  von  Tuten  und  Blasen,  Ziegen  und  Stallhasen  sowie  deren 
Rechte und Billigkeiten hatten, pflichteten Martin entschieden bei und dieserhalb 
Ahnungslose ebenfalls. Da musste sich der Schulmeister erst mal umdrehen; und 
als er seine Gefühle wieder im Griff hatte, gab er mit krampfhaft bärbeißiger 
Miene laut bekannt, so etwas niemals nie mehr hören zu wollen und wechselte 
ohne weitere Diskussion abrupt das Thema. Martin verstand die Welt nicht mehr; 
hatten denn die Erwachsenen immer Recht?

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Wider Erwarten fragte ihn seine Mutter erst Wochen später, als das Grünfutter 
am Bachrain längst wieder üppig nachgewachsen war, was da eigentlich mit Frau 
Bühle gewesen sei. Aber ihr Sohn wollte auch über diese Geschichte Gras wach-
sen lassen und nicht mehr davon reden; deshalb antwortete er missmutig trotzig: 
"Da ist gar nichts gewesen!" Sie meinte jedoch, er solle nicht so scheinheilig 
daherschwätzen; das könnte er vielleicht mit seinesgleichen machen, aber nicht 
mit Erwachsenen. Dann fügte sie noch hinzu, dass ihr jetzt auch klar sei, weshalb 
er die Schuhe vor kurzem mit dem Rad nach Josefingen zum dortigen Schuster 
fuhr, keineswegs weil sie von diesem 'besser und billiger besohlt' würden, wie er 
ihr weismachen wollte. "Du kannst dir aber den längeren Weg sparen. Ich habe 
nämlich mit den Bühles gesprochen; du sollst ruhig wieder Schuhe bringen, sie 
werden dir nichts tun. Und das Hasenfutter holst du in Zukunft woanders!" - "Ja, 
ja", antwortete Martin, dachte aber kategorisch 'nein'! Das mit dem Futter war 
schließlich seine Sache, da ließ er sich von niemand hineinreden. Und zu dem 
Stinkbockschuster hätten ihn keine zehn Gäule mehr gezogen; der Mann gefiel 
ihm schon lange vorher nicht. Nie sagte er ein freundliches Wort, vielmehr starrte 
er ihn, wenn er in seine Werkstatt kam, unaufhörlich über seinen Brillenrand so 
durchdringend an, als wolle er herausfinden, ob er nun derjenige sei oder nicht; 
gleichzeitig hantierte er vielsagend mit Pfriem und Ahle! 
Dabei erinnerte sich Martin bis dato nicht, ihm jemals etwas in den Weg gelegt 
zu haben. Das mit dem Steinchen, welches er einmal über das Hoftor warf, als 
Suleiman gerade an einer Geiß zum Pflichtsprung ansetzte, konnte er schwerlich 
gesehen haben. Es fiel ja auch keineswegs auf den Bock, sondern daneben und 
erschreckte  das  liebeshungrige  Paar  nur  kurz.  Trotzdem  hatte  der  Meister, 
welcher den auch gut Gehörnten am Strick hielt, damals ganz gotteslästerlich ge-
flucht, dass man es bis auf die Straße hörte und mehr als deutlich etwas von 'Hals 
abschneiden' geschrien, wo er doch sonst keinen Ton zu sagen pflegte, nicht mal 
Anton.  Aber  er  könnte  ja  auch  Otto  gemeint  haben,  der  sich  einmal  mehr 
haarsträubend  ungeschickt  verhielt.  Dennoch  traute er  diesem  muffigen 
Miesepeter glatt zu,  kleine Kinder zu fressen; vielleicht hatten sie deshalb keine 
eigenen! Verdächtigerweise gingen auch beide in keine Kirche, weshalb man sie 
überhaupt nicht einzuordnen wusste. Genauso stellte sich Martin Leute vor, die 
noch nie etwas vom lieben Gott gehört haben! 
Ganz anders der Schuster von Maria-Josefingen. Mit seinen dortigen Vettern und 
Kusinen war er schon öfter bei diesem, wenn sie Schuhe hinbrachten oder holten. 
Das war ein lustiger Mensch namens Gottfried Sachs, der recht gern mit Kindern 
scherzte. Immer wollte er von Martin hören, ob er heute wieder den 'Stich durch-
getreten'  habe.    Zwischen    beiden    Orten    galt  es  nämlich  eine  Anhöhe  zu 
überwinden,  die  man  als  junger,  kräftiger  Bursche  auf  dem  Fahrrad  kaum 
registrierte. Aber der Meister bewunderte den Luthershauser Bub dennoch, wenn 
dieser die Frage lachend bejahte. "Na ja, ihr seid halt starke Leute da drüben."  
Jedes Mal wollte er auch wissen, was er denn später einmal zu werden gedenke. 
"Wenn du auf Schuster hinaus willst, kannst du gern bei mir in die Lehre gehen; 
dann bringst du immer von eurem guten Brot mit." Aber leider hatte Martin seine 
Wahl schon längst getroffen, er wollte nämlich Metzger und Anstreicher werden, 
sonst  nichts.  "Aha,  so  wie  der  lange  Friedrich!  Du bist  mir  vielleicht  ein 
Schlaumeier, im Sommer gemütlich Wände tünchen und im Winter jeden Tag bei 
einem  anderen  Bauern  aufs  Schlachtfest.  Ja,  das  ist  natürlich  besser,  als  ein 
ganzes  Le
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los arbeitete. Deshalb ging Martin ausgesprochen gern zu ihm. Ja er zählte ihn 
unter den Erwachsenen zu seinen besten Freunden, den er aber nicht nur insofern 
bewunderte, weil er äußerst geschickt und flink mit Hämmerchen, Kneif, und 
Pechdraht umzugehen verstand; das konnte der Anton Bühle in Luthershausen 
auch. In krassem Gegensatz zu diesem trug Herr Sachs aber noch den Himmel, 
wie weiland der Riese Atlas in Martins Sagenbuch der alten Griechen, allerdings 
nur bei den Fronleichnamsprozessionen. Da mussten es stets vier gleichgroße, 
kraftvolle Mannsbilder von stattlicher Statur sein, und da es in Luthershausen 
nicht genug  katholische von diesem Format gab, stellte Gottfried sich auch dort 
gern  zur  Verfügung.  Sicherlich  hätten  sich  hier  unter  den  vielen  Protestanten 
welche  mit  den  erforderlichen  Gardemaßen  gefunden, den  katholischen 
Glaubensbrüdern auszuhelfen; das aber ließen die Josefinger drüben niemals zu. 
Sie rissen sich geradezu um diese hohe Ehre, und wer da mal einen Stammplatz 
innehatte, verteidigte ihn, solange er aufrecht marschieren konnte; darauf kam es 
nämlich entscheidend an. Der 'Himmel' durfte auf keinen Fall wanken! Er musste 
gleichsam wie ewig fest gegründet durch die Straßen 'schweben'. Dies klappte 
nur, wenn alle vier Träger exakt in Schritt und Tritt gingen. Richtig lernen konnte 
man  das  bloß  bei  den  Soldaten.  Im  feierlich  ornamentierten  Talar  unter  dem 
Baldachin zu wandeln blieb ausschließlich Hochwürden vorbehalten. Kein hoch 
dekoriert-lamettierter  General  war  jemals  dermaßen herrlich  geschmückt  und 
behangen;  so  hätte  man  sich  den  Herrn  bei  seinem  triumphalen  Einzug  in 
Jerusalem an Palmsonntag gewünscht und auf einem hohen, reinweißen Zelter, 
keinem Esel! 
Doch jeder sah sofort, dass Hochwürden nie beim Militär diente, denn er konnte 
partout nicht den Schritt halten. Martin hätte es ihm gern beigebracht, wie er es 
schon bei der Hitlerjugend lernte. Auch andere Leute dachten offenbar in diese 
Richtung, denn er hörte einen alten, einbeinigen Protestanten am Straßenrand zu 
seinem Nachbarn sagen: "Dem möchte man grad helfen", und er meinte zwei-
felsohne sonst niemand als Hochwürden und dessen immerwährendes Getrippel. 
Nun, die beiden hatten gut reden; sie lernten das Marschieren noch bei irgendei-
nem Wilhelm. Auch in der Hölle von Verdun konnten sie diesen betont feierli-
chen Schritt ziemlich oft üben, wenn sie Kameraden zu Grabe trugen, ehe sie 
nicht mehr für die Front und das Marschieren taugten, einer nur noch mit dem 
linken Bein, der andere infolge seines lahm geschossenen Armes, womit er aber 
immerhin noch Amtsgehilfe bei der Gemeinde werden konnte. Im Kopf aber war 
ihnen der Marschtakt unauslöschlich eingetrommelt, und sie hätten ihn Hochwür-
den sicher beibringen können; doch worüber sollte man dann bei diesem sonst 
lachen und witzeln, oder? 
Einer  von  Martins  Freunden,  der  Krügerles  Schorsch,  konnte  Hochwürdens 
wenig würdigen Gang besonders gut nachahmen, nur den Bauch bekam er nicht 
so weit heraus und steckte sich deshalb ein altes Kutschbockkissen in die Hose. 
Wenn dann vier Kumpel eine Pferdedecke als Ersatzhimmel über ihn hielten, hat 
wohl auch Gott Vater geschmunzelt, es sei denn er wäre völlig humorlos, was 
Martin aber nicht glaubt. Nur dass diese vier 'Träger'' so albern torkelten, als 
seien sie total betrunken, fand er weniger originell; denn das waren die echten am 
Fronleichnamsmorgen noch nie, auch sein Freund Gottfried Sachs nicht, hinter 
dessen Schustertisch er immer eine Flasche von dem Klaren stehen sah, wie er 
eigentlich nur in Luthershausen gebrannt wird, wo es die besten Mirabellen und 
Zwetschgen  dafür  gibt;  und  manchmal  roch  der  Meister  auch  wie  Albert 
Zweistein, der Glöckner, welcher dieses Z
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Ja,  zu  ihren  Ehefrauen  hatten  die  beiden  Männer  diesbezüglich  offenbar  null 
Vertrauen, aber ihre Arbeit litt darunter keineswegs, auch nicht das Tragen des 
Himmelszeltes. 
Im Turm mit Martin allein klagte Albert eines Tages bitterlich, seine Grete habe 
ihm schon mal eine noch gut gefüllte Flasche so mir nichts dir nichts verschwin-
den lassen, und als er verzweifelt suchend danach forschte, habe sie scheinheilig 
geantwortet: "Ha wo ischt sie denn nore? Wo mag se denn bloß sei? Frag doch 
mol die Katz!" - "Hädd se damals nedd zufällig d' Schrubber en d' Hand ghätt, i 
glaub, isch hätt ihr oine gscheuert", meint er stark und noch voller Groll. "Wenn i 
nach oim Hauchzich- odr Begräbnisleide e Fläschele gschengd grieg, ischt's doch 
mei guds Rächd als Mo, ab ond zu mal dra z'nibbe, drfir hab i ja auch lang g'litte. 
Abr i zog meine Lehr draus; etzedle vrstegg isch die Pullen so, dass se die alde 
Schnifflerin nedd finde ko; du woisch scho!" Dabei rieb er sich spitzbübisch und 
genüsslich die Hände. 
Wie man sieht, war die Grete nicht so ganz ohne! Als Martin seinen väterlichen 
Kumpan einmal fragte, ob die Kratzspuren in seinem Gesicht nun tatsächlich von 
der Katze stammen, schimpfte er zornig: "Ja, vo der zwoibeinign! Abr weh, wann 
se dess noch oimol dod! Noh schmeiß isch ihr gladd die Peffergugg ens Gsischt! 
Dess  hab  i  oinewäg  scho  lang  em  Sinn."  Zum  Glück  scheint  es  zu  diesem 
bestimmt folgenschweren Widerstand gegen die Hausgewalt nie gekommen zu 
sein,  denn  davon  hätte  Martin  sicherlich  ganz  schnell  etwas  läuten  hören. 
Abgesehen von solchen Nickligkeiten waren die beiden jedoch ein Herz und eine 
Seele und keiner ohne den andern denkbar, Albert am allerwenigsten; und dass 
sie ihren Verstand angeblich noch verschlafen würde, wie er im Ärger wegen 
dem Vaterunser behauptete, war glatte Verleumdung; aber ohne seine bessere 
Hälfte hätte er den seinen mit Sicherheit schon längst versoffen! 
 
Dass sein Großvater ihn bei weitem nicht so gut leiden konnte wie die anderen 
Cousins, wusste Martin. Noch als Kindergartenknirps half er gern seiner Groß- 
mutter beim Schnitzeln der Runkelrüben für das Vieh. Sie putzte diese mit einem 
langen Messer und warf sie in den Mühlentrichter, während er mit äußerster Kraft 
und voller Ehrgeiz das große Schwungrad drehte. Dabei musste er jedes Mal vom 
Boden abspringen, wenn der Griff oben war, eine sauschwere Arbeit für solch ein 
Kerlchen. Großmutter lobte ihn oft und sagte einmal: "Dafür bekommst du am 
Sonntag ein Zehnerle für Eis, mein Guter!"  Sie war so lieb und machte keinen 
Unterschied  zwischen  ihm  und  den  katholischen  Vettern  und  Basen.  Als  sich 
dann  am  Sonntagnachmittag  die  Eisliese  mit  ihrem  sehnsüchtig  erwarteten 
Karren näherte, fand sich Martin ein, um seinen wohlverdienten Lohn abzuholen. 
Sie erinnerte sich auch sofort, fuhr ihm zärtlich übers Haar und steckte ihm den 
versprochenen  Zehner  aus  ihrer  Schürze  in  die  Hosentasche.  Aber  Großvater 
bemerkte dies und wollte wissen, wofür das Geld sei. Als sie es sagte, wurde er 
zornig und laut: Es sei doch eine Selbstverständlichkeit, seiner Großmutter zu 
helfen, das bedürfe keiner Bezahlung. Darüber erschrak der Bub sehr und wollte 
den Groschen schnell wieder zurückgeben; doch sie schob ihn mit den Worten 
hinaus: "Hol du dir nur dein Eis, du hast es verdient!" Er holte es zwar, weiß aber 
noch genau, dass es ihm nicht so recht schmecken wollte, weil er dachte, dass die 
arme Großmutter nun deswegen geschimpft wird. Großvater schenkte zwar auch 
den anderen Enkeln nichts, denn er war ein harter Mann, schuftete selbst Tag und  
Nacht, um die große Familie einigermaßen durchzubringen und verlangte von 
allen dasselbe. Aber bei den katholischen Nachkommen reagierte er nicht i
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so heftig wie bei Martin. Einmal schrie er diesen geradezu vom Acker, als es ihm 
beim Pflügen selbst mit letzter Kraft nicht gelingen wollte, die störrische Kuh an 
den  Hörnern,  zu  denen  er  noch  kaum  hinaufreichte,  in  der  Furche  zu  halten. 
Einen  Nichtsnutz  nannte  er  ihn  damals  und  jagte  ihn  fort.  Von  all  diesen 
Vorfällen  erzählte  Martin  zu  Hause  nie  etwas;  er  wusste  genau,  Mutter  wäre 
außer sich geraten vor Empörung. Vater war zu dieser Zeit bereits im Krieg und  
Großmutter starb bald darauf an zu spät erkanntem Diabetes. 
Unmittelbar nach Kriegsende wechselte Martin ans Gymnasium. Das taten zu 
jener Zeit in Luthershausen nur Kinder der Wohlhabenden; die der Taglöhner und 
kleinen Bauern hatten dort nichts zu suchen; sie wurden als Arbeitskräfte früh 
gebraucht und konnten oft nicht einmal der Schulpflicht ordnungsgemäß nach-
kommen. Das war auch bei Großvater so und er ließ es den Ersten aus der Fami-
lie, der aus der Reihe tanzte, überdeutlich fühlen. Als sich dann zwei Jahre später 
die anrüchige Geschichte mit dem Schwartenmagen an Fronleichnam ereignete, 
entlud sich sein ganzer Zorn. 
Da  sich  Vater  noch  in  Gefangenschaft befand,  knöpfte  er  sich  zuerst  Martins 
Mutter vor. Die 'irrgläubige' Schwiegertochter war ohnehin an allem schuld, hatte 
nicht mal ihn gefragt, als sie ihren Sohn am Gymnasium zur Aufnahmeprüfung 
anmeldete.  Dieser  hörte  heimlich  von  der  Scheune  aus  mit,  als  Großvater  ihr 
Vorhaltungen machte bzw. machen wollte: Ob sie schon vernommen habe, was 
sich Martin wieder erlaubte? Zunächst wollte er gar keine Antwort abwarten und 
gleich weiterpoltern, was er dem Burschen anzutun gedenke, und wenn das sein 
Vater wüsste! Aber Sanne hatte keine Angst vor ihm und fiel ihm energisch ins 
Wort:  Ja,  sie  hatte  vernommen,  es  sei  aber  keinesfalls  erwiesen,  dass  Martin 
daran beteiligt war. "Hänge Er ihm ja nicht solche Sachen an!" Da merkte der 
Grollende, dass er auch damit bei ihr nicht ankam und verzog sich mit der bissi-
gen Bemerkung: "Wer soll's denn sonst gewesen sein, so was lernt man doch nur 
am Gymnasium; aber ich stell's ihm ab, verlass dich drauf!"  Martin fiel dabei 
auf,  dass  Mutter  ihren  Schwiegervater  mit  'Er'  anredete,  nicht  mit  dem  sonst 
üblichen  'Du'  und  dass  Großvater  zum  ersten  Mal  seinen  echten  Rufnamen 
verwendete;  offenbar  hatte  er  ihn  nun  endgültig  als  'verdammten  Lutherkopf' 
abgeschrieben. Auf jeden Fall war er gewarnt und mied fortan das großväterliche 
Anwesen. Als er ihm jedoch wenige Tage später auf der Straße entgegen kam, 
wechselte  er,  wie  immer  in  ähnlich  gelagerten  Fällen,  sicherheitshalber  die 
Bürgersteigseite. Von gegenüber wurde ihm daraufhin mit zorngerötetem Gesicht 
zugerufen: "Dir schlag ich die Protestantenbeine am Arsch ab, dass dir das Gym-
nasium vergeht!"  Zum Glück hatte außer Martin niemand diese verbale Entglei-
sung seines grimmigen Großvaters gehört, sonst wäre vielleicht ein Religions-
krieg in Luthershausen ausgebrochen. Der 'verlorene Enkelsohn' tat jedoch so, als 
ginge ihn das gar nichts an; er sah nur zu, dass er schleunigst weiterkam, dachte 
aber im Stillen, erst musst du mich mal haben, eh du mir irgendetwas am Arsch 
abschlagen  kannst!  Er  wusste  sich  auf  seine  flinken  Beine  und  ständige 
Wachsamkeit  zu  verlassen,  und  daheim  würde  es  der  Grollende  nicht  wagen, 
gegen ihn handgreiflich zu werden, denn er hatte zweifellos längst bemerkt, dass 
mit Mutter diesbezüglich nicht gut Kirschen essen war und Tante Martha, die den 
bärbeißigen Georg ja seit gemeinsamer Jugend mehr als gut kannte, wäre ihm 
bestimmt  mit  ihrem  Krückstock  unsanft  entgegengetreten  und  wie.  Einmal 
erlebte Martin, wie diese sonst so umgängliche Frau seinetwegen regelrecht aus 
der Haut fuhr, als ihm nämlich Herr Buhlmann, der Bewoh
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mit seiner Frau bei ihnen Zuflucht. Als die Amis näher rückten, glaubten alle der 
Gräuelpropaganda,  dass  diese  'Unmenschen'  den  Leuten  jegliche  Wertsachen 
abnehmen würden; deshalb vergrub Martin im dunklen Schuppen das, was man 
dafür hielt, vor allem Bettwäsche, Tischdecken, Vaters guten Anzug und Mutters 
schickes Kostüm, die schlagende Wanduhr, das bessere Porzellan einschließlich 
der schönen, bunten Sammeltassen, den alten Balkenfotoapparat Marke Zeiss-
Ikon, ja sogar Tante Marthas Kruzifix, weil doch der Schmerzensmann daran aus 
Silber war; und nicht zuletzt das neben der Bibel und den Gesangbüchern einzige 
hauseigene  Buch  'Krieg  und  Sieg  im  Westen',  reich  bebildert  mit  tapferen 
deutschen  Soldaten  und  gefangenen  Franzosen.  Jeder Teilnehmer  am 
Frankreichfeldzug  von  1940  erhielt  ein  Exemplar,  also  auch  Vater.  Jetzt  aber 
ängstigte man sich deswegen und wollte es vorsichtshalber lieber in der Erde 
vergraben. 
Eingeweiht in das geheimnisvolle Vorhaben waren nur Mutter und Tante Martha, 
der 'Städter' jedoch nicht. Als dieser sodann ahnungslos in den dunklen Schuppen 
ging,  um  Feuerholz  zu  holen,  stürzte  er  in  das  Loch,  das  Martin bereits  aus-
gehoben, aber noch nicht bestückt hatte. In der Annahme, der Bengel habe ihm 
eine Falle stellen wollen, geriet er in Wut, lief im Hof wie wild hinter diesem her, 
um ihm eine Tracht Prügel zu verabreichen. Als ihn Tante Martha von der Küche 
aus wettern hörte: "Wart nur, du Bankert, das zahl ich dir heim!", stürmte sie 
heraus,  vertrat  dem  Zürnenden  den  Weg  und  schrie  ihn  förmlich  nieder:  "Do 
wärd garnix hoimzahld, ond deeß isch fai koin Bangerd ned, d'r woiß, wär sei 
Vadder isch, merked se sich deeß!" Dabei schwang sie ihren Stock und erhob 
drohend die freie Hand. Herr Buhlmann, der sie bisher nur als total friedliche 
Zeitgenossin kannte, erschrak nicht wenig, hinkte die Treppe zum Speicher hoch, 
denn er hatte sich bei dem Sturz wohl ziemlich weh getan und murmelte nur 
noch, völlig eingeschüchtert: "Ja darf der freche Lauser denn alles machen?" Er 
ahnte  ja  nicht,  welch  ernstes  Vorhaben  sich  mit  dem  Loch  im  verborgenen 
Dunkeln  verbarg,  denn  niemand  weihte  ihn  ein.  Man  war  diesen  Städtern 
gegenüber  ausgesprochen  misstrauisch;  sie  besaßen  ja  nichts  mehr  zum  Ver-
graben  und  hätten  vielleicht  das  Versteck  verraten.  Ansonsten  verstand  sich 
Martin eigentlich recht gut mit dem Ehepaar. Abends, wenn gerade kein Flieger-
alarm war, saßen alle friedlich in der Küche zusammen und knabberten auf der 
blanken Herdplatte gebratene Kartoffelscheiben. Dabei träumte Herr Buhlmann 
oft davon, wie es einmal wieder werden sollte, wenn dieser elende Krieg endlich 
vorbei ist: "Dann besuchst du uns in der Stadt, Martin, und wir gehen ins Restau-
rant Rehrücken essen", was in glücklichen Zeiten offenbar seine Leibspeise war. 
Zwei Söhne hatten sie an der Front und sonst keine Kinder. Beide fielen kurz 
nacheinander in den letzten Kriegswochen; gab das ein Wehgeschrei im Haus, als 
die Todesnachrichten eingingen! Noch heute läuft es Martin eiskalt den Rücken 
hinunter, wenn er daran denkt. 
Seinem Großvater ging er damals lange aus dem Weg, bis dieser ihn eines Tages 
durch Tante Elise, die ihm seit Großmutters frühem Hinscheiden den Haushalt 
führte, rufen ließ, weil er mit seiner Steuererklärung nicht zurechtkam. Da wusste 
Martin, dass er nichts mehr für seine protestantischen Gliedmaßen zu befürchten 
brauchte und dass auch die Kröte 'Gymnasium' geschluckt war. 
Die Kirchweih muss früher in den Dörfern des weiten Schwabenlandes wohl ein 
bedeutendes Fest gewesen sein, wie ein altes Sprichwort noch beweist: 'Oimol 
em Johr isch au em kloinschte Ort a Kirbe'. In Luthershausen war dies zu Martins 
Jugendzeit noch so und löste bei dem ewigen 'Sirmler' 
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Keine Frage, dass hierbei alle feierten und wie, geradezu vorbildlich ökumenisch 
und generationsübergreifend, schon auf dem Arm der Mutter und noch als Greis 
am  Stock:  Kirbesamsdich,  Kirbesonndich,  Kirbemeedich  bes  zom  Zeischdich-
obed; Kirbereidschul, Kirbeschdand fir Zuggerstängles ond Bäredregg; Kirbeaus-
buddle,  Kirbeomzug,  Kirberedd,  Kirbezeidong,  Kirbemussig,  Kirbesoggahopf, 
Kirbemeegetse, Kirbeballe, Kirbebuabala, Kirbeeischarre in Form einer Flasche 
Trollinger  oder  Schwarzriesling,  die  dann  im  Jahr  darauf  beim  traditionellen 
Eröffnungsumzug erneut 'gesucht' und symbolisch als 'Kirbe' ausgegraben wurde. 
Das  ging  älleweil  problemlos  überkonfessionell  und vereinte  zunächst  sogar 
Freund und Feind,  bis  dann unter der enthemmenden Wirkung des Alkohols alte 
Gegensätze  wieder  zutage  traten  und  die  regelmäßige  handfeste  Rauferei  ein-
leiteten. 
Die Kirchweih galt sogar als jährlicher Stichtag; bis dahin musste das neue Kleid 
gekauft und der hohle Zahn plombiert, das Haus frisch gestrichen und die Abort-
grube geleert, die guten Schuhe neu besohlt und der Hochzeitsanzug geweitet 
sein und vieles, vieles Gleichwichtige mehr. Immer wieder wurde von der letzten 
Kirbe gesprochen oder schon von der nächsten. Martins Augen und Ohren waren 
auch  dies  betreffend  ständig  offen.  Dabei  bekam  er völlig  private  Angele-
genheiten  mit,  so  z.B.  als  der  Ochsenwirt  dem  vorbeiradelnden  Küsterfreund 
Albert nachrief: "Du hast von der letzten Kirchweih noch sieben Schoppen bei 
mir stehen!" - "Schütt sie aus, die sind jetzt sauer!", gab der zurück; doch mit        
diesem alten Witz konnte man den Lukas nicht mehr erheitern, geschweige denn  
mildtätig stimmen, vielmehr drohte er unnachsichtig: "Wenn ich bis zur nächsten 
Kirbe kein Geld sehe, kommst du mir nicht mehr rein!" Albert vernahm dies of-
fenbar  noch,  obwohl  er  seinen  alten  Drahtesel  schon  zügig  ein  Stück  weiter 
getreten hatte, denn er lachte laut, ließ es dann aber wohl doch nicht auf sich 
beruhen, sondern beichtete seiner Grete endlich die Schulden; denn diese ver-
waltete bei ihnen den Beutel. Zweifellos beglich sie auch sofort, mit welch gesal-
zenen Worten konnte Martin sich lebhaft vorstellen. Bestimmt fehlte dabei nicht 
der drohende Hinweis, zum 'allerallerletzten Mal' derartige Rückstände getilgt zu 
haben. Lukas sollte ihrem 'Vollsauf' ja nichts mehr anschreiben, sonst könne er 
bis zum St. Bämberlestag auf sein Geld warten! Der Albert bekäm schließlich  
genug Kirbegeld von ihr, mehr dürfe er eben nicht ausgeben. Sie wisse am bes-
ten, wie viel ihm zuträglich sei, und zum Ochsenwirt gewandt, damit er es sich 
ein für allemal hinter die Ohren schreibe: "Dir und einigen anderen Hornochsen 
macht das noch Spaß, wenn sich mein Alter volllaufen lässt; aber euch komm ich, 
euch  Schlawiner!",  drohte  sie  wohl  mit  erhobener  Faust,  zahlte  bis  auf  den 
Pfennig genau und strafte den Lukas fortan mit Verachtung. Bei der nächsten 
Kirchweih durfte ihr Albert dann wieder fröhlich zwischen seinen Zechbrüdern 
sitzen, bis die Grete ihn laut schimpfend herausholte; auf dieses amüsante Spek-
takel warteten alle jedes Jahr. 
An den geweihten Tagen wurden aber gewöhnlich auch noch andere Rechnungen 
beglichen, zumeist viele gleichzeitig in Form einer Massenrauferei. Als Außen-
stehender, wie Martin, wusste man in der Regel gar nicht, worum es im Einzel-
nen ging. Vielleicht hatte da einer beim Pflügen die Grenze verletzt und vom 
frisch gemisteten Acker des Nachbarn einen Streifen zu sich hinübergeworfen! 
Oder jemand ließ haufenweise Disteln zu lange stehen, dass deren  Samen aus-
reifen konnten und vom Wind über das gepflegte Kartoffelfeld nebenan getrieben 
wurde, oder es ging um Mädchen oder ähnlichen Krimskram. Aber wie gesagt, 
genau
 
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ren Worte deswegen verloren, vielmehr die Angelegenheit hiermit in der Regel 
als bereinigt ansahen. 
Einen Fall bekam Martin jedoch zufällig bis ins Detail mit und kann ihn durch 
Apollonia denjenigen, die solch traurige Geschichten auch noch lustig finden, 
gerne schildern lassen: Der langjährige Totengräber Adam legte sich dummer-
weise mit dem Gemeinderat an, der ihm vorwarf, das Grab des alten Gerberle 
Hannes entschieden zu schmal gemacht zu haben, wodurch der Sarg beim Hinun-
terlassen hängen blieb und im trauernden Angesicht des ganzen Dorfes beinahe 
umgekippt  wäre;  man  musste  mit  dem  Spaten  deshalb  nachstochern.  Adam 
verteidigte sich gereizt und gab dem Schreiner Paul die Schuld, dieser habe den 
Sarg  unnötig breit  angefertigt,  wo  doch  der  Hannes zuletzt  nur  noch  wie  ein 
Strich war. Der Rat ließ dies aber nicht gelten, so dass es darüber zum Streit kam, 
in dessen Verlauf der Adam dem Vernehmen nach gedroht haben soll, dafür zu 
sorgen, dass die hohen Herren allesamt umgekehrt ins Loch kämen!  Nein, nicht 
mit dem Bauch nach unten und dem Allerwertesten gen Himmel, darauf hatte er 
keinen Einfluss, aber mit dem Kopf zum Tal und den Füßen bergauf, sozusagen 
als ewige Büßer, das konnte er eventuell unbemerkt deichseln! Damit ging der 
Adam aber denn doch zu weit und man nahm ihm kurzerhand das Amt und die 
zugehörigen gemeindeeigenen Werkzeuge Spitzhacke nebst Spaten ab und über-
gab alles einem jüngeren Tagelöhner aus dem Unterdorf namens Kurt, der sich 
gern ein Zubrot verdiente und auch bereit war, die Friedhofsordnung in allen 
Punkten einzuhalten. 
Als der Geschasste wenige Tage später an ihrem Haus vorbeiging, hörte man 
Tante Martha am Hoftor stehend fragen: "He, Adam, warom bescht du dann jetz 
ned meh d'r Dodegräbr, i hann doch fescht med dir g'rechnd?" Darauf erwiderte 
dieser grimmig und vielsagend: "D'r Mayr Karle isch au 'n Dreggsagg! Aber 
waard  bloß  an  Kirbe!"  Die  erfahrene  Tante  Martha  wusste  sofort,  was  diese 
Drohung bedeutete und rief dem kraft- und lebensvollen Leichenverweser besorgt 
hinterher: "Abr do's ned so arg!" 
Der Mayer Karl war langjähriger Bürgermeister und eigentlich im Ort sehr be-
liebt; aber beim Adam hatte er es nunmehr total verschüttet, obwohl er dessen 
Absetzung keineswegs allein betrieb. Doch tatsächlich beobachtete Martin so-
dann im Kirbeochsengetümmel, wie der frühere Totengräber dem Karl mit ge-
ballter Faust ein dickes Veilchen ans Auge heftete. Der redete hinterher zwar von 
einer Anzeige, und dass er das als Amtsperson in Amtsangelegenheiten nicht hin-
nehmen könne, sah aber dann doch davon ab, a) mangels Zeugen, weil bei derlei 
Anlässen grundsätzlich nie jemand etwas gesehen hatte, b) weil er wusste, dass 
dem Adam doch nicht viel geschehen würde, der mildernden Umstände wegen, 
weil es ja an Kirchweih geschah und man deshalb nicht die ganze Strafprozess-
ordnung umschreiben könne. Schließlich war die Kirbe selbst nach Auffassung 
des hohen Gerichts auch zum Dampfablassen da, damit der Überdruck niemand 
anhaltend das Leben vergällte oder zu weitaus Schlimmerem antrieb, oder dass 
einer deswegen gar die Gelbsucht bekäme und dahinsiechte! Musste der Karle 
halt eine Weile blauäugig 'birgermoischdern', was er sonst eigentlich nicht tat. 
Noch ein anderes Geschehnis erscheint in diesem Zusammenhang erwähnungs-
bedürftig: Die obligatorische 'Kirberedd' von einem erhöhten Podest hielt immer 
ein Onkel von Martin. Er machte das hervorragend, ließ witzig und in gekonnten 
Reimen die wichtigsten Ereignisse des Jahres Revue passieren, ohne jemand zu 
verletzen. Wenn z.B. einer beim Jauchefahren den Tank nicht richtig verschloss  
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und dann auf der Dorfstraße eine breite Duftspur hinterließ, wurde dies etwa so 
glossiert: 'Die bekannte Parfümfabrik Bronzisch in der oberen Kirchgasse ver-
teilte vorige Woche wieder eine Gratisprobe ihrer neuesten Spezialmischung in 
der  Gemeinde  zur  Freude  aller  Bürger;  sie  kann  jetzt  literweise  direkt  vom 
Produzenten  zum  Kirbe-Sonderpreis  bezogen  werden;  saubere  Flaschen  sind 
mitzubringen!' - Oder wenn einem Bauern im Feld mal die Pferde durchgingen 
und  allein bis  in  den  vertrauten  Stall  galoppierten,  wurde  ihm  wärmstens  der 
örtliche  Turnverein  empfohlen,  damit  er  schneller  laufen  lerne  und  künftig 
gemeinsam  mit  seinen  Rössern  heimkäme.  -  Wenn  man  wusste,  dass  ein 
Jungbauer schon lange Nachbars Trudchen ehelichen wollte und diese  ihn, er 
aber immer noch nicht seinen Antrag fertig formuliert hatte, wurde ihm dringend 
geraten, einen Schnellkurs bei dem andalusischen Grande Geranjadennsiewillja 
zu besuchen.  
An die gelungenen Verse, die das Salz in der Suppe waren, erinnert sich Martin 
leider nicht mehr, jedoch an ein Nachspiel: Sein auch von ihm geschätzter Onkel 
benutzte als symbolische Ortschronik eine Bibel, legte sein Manuskript hinein 
und trug daraus vor. Eigentlich sollte es nur ein beliebiges dickes Buch sein; da er 
selbst kein passendes besaß, bat er seinen protestantischen Nachbarn, der ihm 
arglos sein einziges auslieh. Ein reformierter 'Oberrabbiner' nahm dies aber übel 
und zeigte den Redner an, nicht wegen seiner anderen Konfession, sondern weil 
er die Heilige Schrift missbraucht sah. Im Nachhinein schlossen sich auch andere 
dieser Auffassung an, z.B. Mutter Sanne, obwohl sie bestimmt nichts gegen den 
Schwager hatte; und Martin selbst neigte nach längerem Schwanken aus Gottes-
furcht  schließlich  ebenfalls  dazu,  hätte  aber  bestimmt  nicht  irdische  Gerichte 
damit befasst. Onkel argumentierte in der Verhandlung, dass die Kirchweih doch 
ein im Grunde christliches Fest sei; weshalb durfte dann die Bibel nicht dabei 
sein?  "Ja",  so  hielt  man  ihm  entgegen,  "selbstverständlich  vormittags  in  der 
Kirche, aber doch nicht am Festplatz!" - "Da hättet ihr mal, wie ich in Russland, 
erleben sollen, wo die Militärpfarrer überall die Bibel dabei hatten, z.B. mitten in 
den Pripjet-Sümpfen!" - "Trotzdem", so musste er sich vom Gericht belehren 
lassen, "wo es lediglich um Volksbelustigung und Anheizen der Stimmung geht, 
hat die Heilige Schrift nichts zu suchen!" Die Geldbuße fiel zwar harmlos aus, sie 
glich  eher  einer  Verwarnung  und  Ermahnung;  dennoch weigerte  sich  Onkel 
fortan,  die  Festrede  zu  halten,  was  allgemein  bedauert  wurde.  Der  sie  dann 
notgedrungen übernahm, konnte es bei weitem nicht so gut. Schade, dachte auch 
Martin,  der  gern  mitlachte,  weshalb  fragte  er  nicht  mich?  Ich  hätte  ihm  ein 
geeignetes  Buch  leihen  können,  z.B.  die  dicke  Einbandausgabe  von  Brehms 
Tierleben oder den handlichen Ekkehard von Scheffel, die er beide zur Konfir-
mation geschenkt bekam. 
Die in der Familie für reichlich Gesprächsstoff sorgende Geschichte regte Martin 
zum Nachdenken an. Dabei stieß er auf die fundamentale Frage, welche Kirche 
denn  eigentlich  damals  eingeweiht  wurde,  die  große protestantische  oder  die 
kleine katholische. Auch die Kapelle der Mennoniten hatte ihr ehrwürdiges Alter 
und konnte es zunächst theoretisch gewesen sein, schied jedoch bald aus, weil er 
herausfand, dass diese Glaubensgemeinschaft erst nach dem 30jährigen Krieg ins 
Dorf kam. 
Dann stellte er fest, dass ihr protestantisches Gotteshaus mit Abstand das älteste 
ist, sogar wesentlich älter als Martin Luther selbst. Folglich musste es aus einer 
Zeit  stammen,  in  der  es  überhaupt  noch  keine  Protestanten  gab,  sondern  nur 
Katholiken. Der nachdenkliche Knabe grübelte und fragte sich, wie das alles zu- 
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gegangen  sein  mag,  als  diese  Kirche  und  die  Leute  im  Ort  auf  einmal 
protestantisch wurden. Ging da etwa der Gemeindediener mit der Schelle umher 
und verkündete: "Ab sofort hat jeder protestantisch zu sein und die Kirche auch!" 
So wie heute noch Friedrich der Dritte, den Martin stets bewunderte, wenn er 
weit ausholenden Schrittes durch die Straßen marschierte und dabei gleichmäßig 
mit der Rechten die Glocke schwang; das konnte bestimmt nicht jeder. An gewis-
sen  Stellen  machte  er  halt,  klemmte  die  Schelle  am teilweise  noch  schwarz 
lackierten Holzgriff unter den linken Arm, dessen Hand den Zettel trug; diesen 
fasste er jetzt auch rechts und verlas mit lauter Stimme die 'Bekanntmachungen'. 
Martin hörte stets aufmerksam zu, und noch heute hat er manches im Ohr, z.B. 
aus der schweren Nachkriegszeit: "Achtung, Achtung! Der Bürgermeister gibt im 
Auftrag der Militärregierung Folgendes bekannt:  
1. Alle ehemaligen Parteigenossen der NSDAP haben heute Punkt 18 Uhr am 
    Spritzenhaus ihr Fahrrad abzuliefern! 
2. Morgen von 10 bis 12 Uhr ist der Einnehmer da, erhebt Steuern und Gemein- 
    degelder. 
3. Am kommenden Samstag Punkt 7 Uhr in der Früh hat sich von jedem Haushalt 
    eine fähige Person mit Hacke am Wäldchen einzufinden zwecks Maßnahmen   
    zur Wiederaufforstung! Kriegsinvaliden ausgenommen. Wer sich weigert, er-  
    hält für nächsten Monat keine Lebensmittelkarte." 
Was ihm besonders wichtig erschien, wiederholte er. Dann griff er abermals zur 
Schelle und eilte bimmelnd dem nächsten Haltepunkt entgegen. Martin ärgerte 
sich stets, weil er nie vor seinem Haus stehen blieb, sondern erst am nächsten. Er 
hatte die 'blöde' Riedlern in Verdacht, dass sie es wohl schon vor seiner Geburt 
durchsetzte, denn dieser Standplatz lag direkt an ihrem Küchenfenster. Solche 
Frechheiten nahm die sich nämlich heraus. Einmal hörte er auch durch die Dach-
luke, wie sie dem voll im Dienst Vorbeischreitenden ungeniert zurief, er möge 
gefälligst ebbes laudr redde, sie würde manchmal nicht älles schnalle; außerdem 
soll er ebenfalls gefälligscht dafür sorgen, dass ihr koine fremde Stoine mehr in 
den Garten geworfen werden. Erst gestern lag wieder einer zwischen den herab-
gefallenen reifen Mirabellen, und beinahe hätte sie draufgebissen, weil sie ihre 
Brille nicht aufhatte. Solche Kiesel gäbe es auf ihrem Grund und Boden über-
haupt nicht. Als sie daraufhin von dem ortseigenen Würdenträger in fast reinem 
Amtshochdeutsch anmaßend geringschätzig gefragt wurde: "Was soll ich denn 
noch alles mache?", riss die streitbare Schadull, die einst mit ihm in die gleiche 
Klasse  ging,  sofort  d'Gosch  weit  auf  und  machte  dem  Emporkömmling  mit 
spitzer  Zunge  unmissverständlich  klar,  dass  ein  Bolizeidienr  schließlich  auch 
dafür  bezahlt  werde,  solche  ungeheuerlichen  Verbrechen  zu  verhindern.  Und 
dann setzte die Schwertgosch noch einen ganz besonders Bösen drauf: "Fritz, ois 
will  i  d'r  saga,  bei  deim  Babbe  un  deim  Großvaddr  ischt  sou  ebbas  ned 
vorkumme!" 
Martin biss sich auf die Zunge, um ihr nicht von oben herab zurufen zu müssen: 
'Was doscht au ohne Brill im Gaarda? Kieselstoi ko mr högschdens med kloine 
Rossgrombiera verwechsle!' Das war nämlich eine Riedlersche Spezialität und all 
jener, die wie ihr Mo, gern die Nachbarschaft mit duftiger original schwäbischer 
Blasmusik  erfreuten.  Als  er  ihr  wieder  einmal  so  ein  Topinamburrrrrr-Solo 
zugemutet hatte, fragte ihn Mutter Sanne über den Gartenzaun: "Hannes, leidschd 
du  unner  Blähunge?".  Da  antwortete  dieser  ohne  Reue  mit  der  bekannten 
Redensart, sichtlich erleichtert und bumsfidel: "Leide? Hanoi, dia send noh moi 
oinzig Vergnüaga!", was man ihm bei einem derartigen Hausdrachen auch sofort  
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abnahm. Aber wie sollte Friedrich III die Steine verhindern? Sie flogen ja stets 
wie die Eulen erst nach Einbruch der Dunkelheit. Tagsüber sammelten sie sich 
unsichtbar unter Grüblers Rhabarber an. Und dass die Rätsch nicht mehr alles 
mitbekam, lag doch nur an ihr; sollte sie sich doch mal das Schmalz aus den 
Lauschern bohren lassen oder ein langes Hörrohr anschaffen, am beschte bis naus 
auf d'Gass, dann könnt er ihr hineinmiauen oder, wenn's niemand sehe ko, oi 
Stängle  Stangenschwefel  reinschiaba  und    anzunde,  der  Krawallschachtel!  Er 
verstand  jedenfalls  alles,  sogar  von  weiter  weg;  denn  dieser  Gemeindediener 
konnte sehr gut lesen und sprach mit klarer, fester Stimme, wie es sich für eine 
derart wichtige Amtsperson gehört. Nur heute merkte man ihm an, dass er inner-
lich bebte vor Zorn; zweifellos war es der Frechmauligen mal wieder gelungen, 
ihn zu ärgern, obwohl er zur Genüge wusste, dass sie eine alte Beißzange ist mit 
Haaren auf der Zunge. Aber die schnöde Behauptung, seine Vorfahren wären 
pflichtbewusster  gewesen,  traf  ihn  zweifellos  hart.  Es  kam  nämlich  nicht  von 
ungefähr, dass er es so gut konnte, übte er diesen Beruf doch schon mindestens in 
der dritten Generation aus. Sein Vater und auch sein Großvater hießen sinniger-
weise ebenfalls Friedrich, deshalb nannte man ihn den Dritten. Die Alten im Dorf 
sprachen  noch,  wie  vorzeiten,  vom  Polizeidiener,  und  seine  Ahnen  hätten 
obendrein  auch  genachtwächtert.  Von  diesen  Hinweisen  rührte  wohl  Martins 
letztendlich  gewonnene  Vorstellung:  Damals,  vielleicht  so  um  das  Jahr  1546 
gegen Mittag, ging der Nachtwächter, nachdem er ausgeschlafen hatte, als Poli-
zeidiener mit der Schelle durch den Ort, der seinerzeit noch Sankt Petershausen 
hieß und verkündete: 
  "Achtung, Achtung, der Schultheiß gibt im Auftrag seiner Majestät, des  Kur- 
    fürsten, Folgendes bekannt: 
1. Ab morgen Punkt 10 Uhr in der Früh haben alle Einwohner protestantisch zu 
    sein. Der Papst darf nicht mehr verehrt, die Heiligen sowie die ehemalige    
    Jungfrau Maria nicht mehr angebetet werden. Fronleichnamsprozessionen sind   
    fürderhin verboten. An Buß- und Bettag hat jeder Bürger vorschriftsmäßig zu   
    büßen und zu beten. Alle Kapläne und Priester haben binnen sechs Wochen zu   
    ehelichen!  Nichtbefolger kommen in den gemeindeeigenen 'Schraubstock', bei 
    Wiederholung in die kurfürstliche 'Eiserne Jungfrau'. Außerdem heißt unser   
    Dorf ab sofort nicht mehr St. Petershausen, sondern Luthershausen, ohne St.  
2. Wer die Brücke über den Wiesenbach benutzen will, muss nach der neuen Ge- 
    bührenordnung einen Gulden, für Ross, Rind, Ochs und Esel einen Batzen   
    sowie für Kleinvieh einen Kreuzer in die dort weiterhin stehende ehemalige  
    Ablasstonne werfen. Säuglinge jeder Art dürfen kostenlos passieren, müssen  
    aber protestantisch getauft sein. Zuwiderhandelnde siehe Punkt 1! Vorsicht, die   
    Brücke steht unter ständiger Beobachtung mit einem so genannten Fernrohr. In  
    späteren Zeiten soll dieses durch ein besseres Gerät ersetzt werden, das man  
    Rattenfalle oder 'Großer Bruder im Starenkasten' nennen wird. 
3. Am kommenden Samstagmorgen Glock 6 muss sich aus jeder Kate eine 
    kräftige Person am Wäldchen einfinden zum Holzfällen für den neuen  
    Dachstuhl am kurfürstlichen Schloss; Säge und Axt sind mitzubringen! Äste  
    unter Daumesdicke dürfen nach Feierabend zum eigenen Gebrauch kostenlos  
    gesammelt werden, so viel jeder auf seinem Rücken tragen kann. Unser aller- 
    gnädigster, großherziger Fürst gestattet dies ausdrücklich. Alle sind ihm dafür   
    zu großem Dank verpflichtet. Ich wiederhole: Ab morgen Schlag 10 haben 
    sämtliche Einwohn
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Fast alle fügten sich, aus Angst vor den Schraubstöcken verschiedenster Bauart; 
nur wenige ganz verstockte Papisten wie sein Ur-Ur-Urgroßvater weigerten sich, 
urplötzlich  anders  zu  glauben,  trotz  Daumenschrauben  und  derart  hartnäckig, 
dass sogar die Schwerter brachen, mit denen man sie köpfen wollte. Da verspürte 
Martin doch etwas Stolz in der Brust, irgendwie großväterlicherseits noch dieser 
Sippe  anzugehören.  Die  im  Nachbardorf  hatten  es  da wesentlich  leichter;  sie 
waren in diesen gräulichen Zeiten Eigentum eines anderen, mit dem Vatikan ir-
gendwie verschwisterten oder verschwägerten Landesherrn. Deshalb durften sie 
weiterhin wackere Katholiken bleiben bis auf den heutigen Tag.  
Damit waren in Martins Köpfle auch diese gewichtigen Fragen im Zusammen-
hang mit der alljährlichen Kirchweih geklärt. 
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Feiertage in Luthershausen

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