In der Toskana

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Gabriella

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1.)  In der Toskana 
 
Ja, ganz seltsame Zufälle gibt es im Leben: Nur weil er Anfang der 1950er Jahre als 
Obertertianer Unterschriften für ein Vereintes Europa sammelte, verliebte er sich 
heftig in eine Florentinerin. Das kam so: Eines Tages erschienen im Königstadter 
Koplergymnasium zwei Herren und wollten wissen, wer mithelfen möchte, das alte 
blut- und tränengetränkte Europa besser zu gestalten. Auch Martin meldete sich und 
erhielt Listen, mit denen er sodann tagelang durch Straßen lief und die Leute an-
sprach: "Wollen Sie die Vereinigten Staaten von Europa?" - Meistens reagierte man 
positiv, vielleicht auch weil der kecke Bursche so eindringlich treuherzig fragte, 
und schon folgte seine dringende Aufforderung: "Dann unterschreiben Sie bitte!" 
Manche taten es ohne Umschweife, einer meinte sogar begeistert: "I onderschreib 
älles, wann's bloß nedd mei Doodesurdeil ischt!" Andere zierten sich, ergriffen nur 
zögerlich den fälschungssicheren Stift mit viel Wenn und Aber. Insgesamt überwog 
die Skepsis: "Wollen schon, aber die bekommen wir doch nie!" Dessen ungeachtet 
ließ Martin sich nicht entmutigen; hartnäckig fragte und bat er, ohne zu erlahmen; 
schließlich sammelte er die meisten Unterschriften in Königstadt und erhielt die 
Einladung des 'Bundes Europäischer Jugend' zu einem Ferienaufenthalt in Viareg-
gio. In der Toskana sollte das sein, irgendwo in Italien am Mittelmeer, und es ließ 
sich sogar im großen Dierke-Weltatlas als winziges Pünktchen finden.  
An eine derartige Reise so weit in den Süden konnte er bisher noch nicht mal den-
ken; woher sollte er das Geld nehmen? Doch dann kam es auch schriftlich samt 
Rückfahrkarte 2.Klasse und näheren Einzelheiten: Ausschließlich männliche Teil-
nehmer  aus  fast  allen  Ländern  Westeuropas,  Vorträge,  Diskussionen,  aber  auch 
Strand und Ausflüge nach Elba, Lucca, Pisa, Florenz, sogar nach Rom waren fest 
eingeplant. Selbstverständlich ließ er sich das nicht entgehen und bestieg zu Beginn 
der Sommerferien erwartungsvoll den Schnellzug nach Rom. Drinnen saßen schon 
welche aus Norddeutschland, Belgien, Holland, Luxemburg und den Skandinavi-
schen Ländern; denn auch dort gab es optimistische junge Europäer. Die blaue Fah-
ne der Zukunft aus einem Abteilfenster wies den Weg zu ihnen. Fast bei jedem Halt 
eilten weitere mit dem blauen Halstuch über den Bahnsteig herbei. Man konnte sei-
ne Englisch- und Französischkenntnisse testen; selbst Latein erwies sich als nütz-
lich beim fröhlichen Erkunden der ersten Worte Italienisch, mit dem der Wagon be-
schriftet war.  Über Basel, Luzern, durch die Heimat Wilhelm Tells ging es hinauf 
zum St. Gotthard und dann hinunter, ein Stück am Comersee entlang. Klingende 
Namen  aus dem  Deutsch-, Erdkunde-, Geschichts-, Latein- und Kunstunterricht, 
aus Büchern und Filmen nahmen Gestalt an, Orte zogen vorüber, von denen er bis-
lang nur sehnsüchtig träumen konnte! Jetzt, auf seiner ersten und gleich so großen 
Auslandsreise erlebte er dies alles mit einem wahren Hochgefühl voll brennender 
Neugierde! 
In Mailand wurde für einen Tag Station gemacht. Hier rückte der gewaltige weiße 
Marmordom in den Mittelpunkt des Interesses. Martin kannte gut das Ulmer Müns-
ter, jenes in Freiburg sowie den romanischen Dom zu Speyer am Rhein von Schul-
ausflügen; aber so etwas Großartiges hatte er noch nicht gesehen. Doch er versäum-
te auch nicht, mit einer kleinen Gruppe nach Santa María delle Grazie hinauszupil-
gern, um Leonardo da Vincis berühmtes 'Abendmahl' andächtig staunend zu be-
wundern, trotz der abbröckelnden Farben. Er kannte es gut von seiner zu Hause im 
DIN-A4-Format  eingerahmten  schönen  Urkunde,  die  ihm  einst  hei
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Am  folgenden Tag  durchquerte  der  Zug  die  Po-Ebene, von  deren  Fruchtbarkeit  
Martin schon viel gehört hatte. Die Reisfelder und ihre Bearbeitung interessierten 
ihn besonders. In Genua sah er zum ersten Mal auf ein richtiges Meer; bisher kann-
te er nur das 'Schwäbische' um die Mainau herum. Von Carraras Marmor-Brüchen 
sah man im Vorbeifahren leider nichts; die frische Erinnerung aus Mailand sorgte 
aber für Aufmerksamkeit, als in der Nähe ein Tieflader sichtbar wurde, der einen 
gewaltigen weißen Steinquader transportierte. 
Und schon bald danach erreichten sie dieses Viareggio! Im Schatten eines strand-
nahen Pinienwaldes am südlichen Stadtrand hatte italienisches Militär ein vorbild-
liches Zeltdorf errichtet. Wohl aus Gründen der nächtlichen Verständigung lagen 
bei Martin nur Deutschsprachige in den Feldbetten, zweistöckig übereinander; ne-
ben dem Eingang wehte an einer langen Stange die blaue Europafahne. Meistens 
hing sie allerdings schlaff in der Hitze des Tages; nur morgens, wenn eine leichte 
Brise vom Ligurischen Meer herüberwehte, flatterte sie eine Weile.  
Anfänglich waren die Vorträge gut besucht, die Diskussionen lebhaft; doch es man-
gelte an Simultan-Dolmetschern, nachmittags obendrein auch noch an Kühle selbst 
im Schatten, weshalb sich die jungen Europäer zum Leidwesen der Organisatoren 
bald mehr und mehr an den Strand verzogen. Als dann gar ein hochrangiger Politi-
ker bei seinem Vortrag ohne Publikum blieb, ließ man kurzerhand verärgert die all-
abendliche Pasta, nein, nicht unter den Tisch fallen, aber hinter Schloss und Riegel. 
Dies brachte den Wortführer in Martins Zelt so in altgermanische Berserkerwut, als 
hätte er sich literweise hochkonzentrierte Fliegenpilzsuppe hinter das blaue Hals-
tuch gegossen. Der streitbare europäische Jugendpatriot riss die Fahne mitsamt der 
Stange an sich und stürmte, gefolgt von Martin und anderen hungrig Ergrimmten, 
in Richtung Direktionszelt. Dort errichtete man panikartig mit den für den Vortrag 
aufgestellten Stühlen eine Barrikade und gab mit stark italienischem Akzent die 
heisere Parole aus: "Immer die Deutschen! Immer die Deutschen!!" Nach hitzigem 
Wortgefecht in fast babylonischer Sprachverwirrung durch den stuhlbeinstarrenden 
Wall, in den bereits eine unschuldige Fahnenstange bedrohlich eingerammt war, 
wurde letztendlich blutlos ein Waffenstillstand ausgehandelt: Der Vortrag sollte in 
der nächsten Morgenfrische nachgeholt werden, wenn alle gut gesättigt ausgeschla-
fen hätten, auch der wohl zumeist von sich enttäuschte hohe Herr; und die Pasta 
stand ebenfalls noch im großen Küchenzelt, vom italienischen Chefkoch liebevoll 
auf kleinem Feuer warmgehalten. (Er sympathisierte ohnehin insgeheim mit den 
Deutschen; Rommel hatte ihm angeblich einst in der Cyrenaika auf die Schulter 
geklopft, nachdem er sich an englischen Markklößchen, die sie im Sand vergraben 
aufspürten, gütlich tat; zuerst habe der 'Wüstenfuchs' bei seinem überraschenden 
Eintreffen an diesem Frontabschnitt mit dem 'Fieseler Storch' jedoch fürchterlich 
geschimpft, weil schon einige Dosen von den Landsern geleert waren, die er zu-
nächst für von den Tommys vergiftet hielt. Dann futterte er aber genüsslich mit). 
Der zum Abendessen vorgesehene Chianti war zwar teilweise verbraucht, was er-
klärte, weshalb niemand vor der heranstürmenden Germanenhorde davonlief, aber 
mit gutem apuanischen Wasser etwas gestreckt, reichte er noch, so dass alle ge-
meinsam ihren Sieg gebührend begießen konnten und den historischen 'Frieden von 
Viareggio'. 
Martin  freute sich sehr auf diesen nächsten Tag, allerdings weniger des Vortrages 
wegen, von denen er ja nun schon eine ganze Reihe mit allmähli
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Denn  dort  bahnte  sich  ein  gesamteuropäischer  Brückenschlag  von  enormer  ge-
schichtlicher Dimension an: Eine gewaltige Sandburgenanlage war geplant, beste-
hend aus dem Vatikan oder der Sommerresidenz des Papstes in Castel Gandolfo am 
Albaner See (das war noch nicht ganz ausdiskutiert!), dem Stadtkern von Florenz 
als dem Nabel der Welt und dem Hohenzollernschloss im Schwabenland. Wie kam 
es zu diesem einmaligen Vorhaben? 
Tags zuvor hatte Martin, Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung suchend, eine 
italienische Großfamilie aus der toskanischen Hauptstadt kennengelernt, die zurzeit 
ihr Sommerhaus in Viareggio bewohnte. Die meisten älteren Männer waren unter 
Mussolini bei dessen Soldaten und sprachen vom gemeinsamen Krieg her noch ei-
nige Worte deutsch, die Damen besser französisch, sodass man sich ganz gut ver-
ständigen konnte. Man fragte nach dem Woher und Wohin, hatte auch schon etwas 
von  der  interessanten  Idee  eines  vereinten  Europas und  von  dem  Zeltlager  am 
Stadtrand gehört. Echte Begeisterung kam jedoch erst auf, als man erfuhr, dass die-
se 'neue Europajugend' auch einen Tagesausflug nach Florenz plante. Damit trat 
Martin regelrecht eine Lawine los über die ganze Breite an Sehenswürdigkeiten 
dieser einmaligen Stadt. Jede und jeder wusste noch einen Geheimtipp über das 
hinaus, was sowieso schon alle Welt weiß bzw. zu wissen hat. Martin war leider 
ziemlich ahnungslos, tat aber soweit möglich, als sei er das nicht. Selbstverständ-
lich  hatte  er  schon  von  Michelangelo  gehört,  im  Kunstunterricht  des  Kopler-
Gymnasiums auch bereits einiges gesehen; dass er der Welt größtes Universalgenie 
wäre und sein David der schönste aller Männer, wusste er zwar noch nicht, aber er 
bestätigte es vorsichtshalber, obwohl einige der jüngeren Dämchen zu kichern be-
gannen.  Diese  verstummten  jedoch  sofort,  als  die  dominierende  'mamma'  einen 
strafenden Blick in die Runde warf und die offenbar derzeit am meisten von der 
Pubertät Gebeutelte scharf beim Namen  rief: "A-le-xandra!!" 
Beim Thema 'Hohenstaufen' konnte Martin allerdings mitreden, sogar einiges klar-
stellen ohne besserwisserisch zu verstimmen. Dafür gab er dann unumwunden zu, 
von der Kollaboration der Ghibellinen gegen die Guelfen keine Ahnung zu haben, 
weil er da offenbar 'in der Schule pennte, als das durchgenommen wurde', was man 
mit befreiendem Lachen quittierte. Über alledem entwickelte sich aus einzelnen 
Linien im Sand ein kompletter Plan der Innenstadt von 'Firenze' mit den besten 
Wegen zu den wichtigsten Gebäuden und Plätzen diesseits und jenseits des Arno. 
Dies hatte zur Folge, dass Martins Bus-Gruppe nach einem erschlagenden Tag in 
den Uffizien - der bei einigen, trotz Botticellis 'Geburt der Venus' und des ähnli-
chem, fast zu einem Stendhal-Kollaps führte -  noch zur Piazzale Michelangelo 
und von dort zu guter Abendstunde hinauf nach Fiesole fuhr, um von der Terrasse 
vor Sant'Alessandro den traumhaften Blick nach unten zu genießen. Letztlich dank-
ten alle dem 'ortskundigen' Martin, dass er  dazu gedrängt hatte! 
Als  dieser  am  nächsten  Tag  davon  berichtete,  strahlten  die  Florentiner  und  be-
klatschten sich, ihre großartige Heimatstadt, aber auch den gelehrigen 'Tedesco', bei 
dem ihre Ratschläge so gut angekommen waren. Dass dieser allerdings die Uffizien 
erdrückend, den Arno ziemlich schmutzig und David als nicht vollkommen gelun-
gen fand, verschwieg er taktvoll. Letzterer hat seiner Meinung nach einen zu gro-
ßen Kopf. Der Pimmel erscheint ihm dagegen zu klein geraten; damit kann man 
wohl pubertierende Töchter zum Kichern bringen, aber wohl kaum so viele Weiber 
glücklich machen, wie vorzeiten jener König. Dass er mit seiner Auffa
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Aber vielleicht waren ja die Damen früher anspruchsloser! Außerdem befand sich 
jenes Zipfele offenbar gerade in sicherlich wohlverdienter Ruhephase, als es von 
Michelangelo zurechtgeklopft und blankgeschliffen wurde.   
In dieser Stimmung kam die Idee auf, über der Grundlage des von der schwachen 
Flut nur leicht verwischten Planes im Sand, besonders bedeutungsvolle Gebäude 
wie z.B. Dom, Campanile und Baptisterium zu modellieren. Dies sei eine Ehren-
aufgabe für die so zahlreich anwesende toskanische Jugend. Martin könnte ja dane-
ben etwas aus seiner Heimat nachbauen, z.B. das berühmte 'castello pittoresco Lin-
derhof', welches ein Opa noch vor dem Krieg besucht und offensichtlich als typisch 
deutsch in Erinnerung hatte. Martin wollte aber lieber das Hohenzollernschloss 'er-
richten', da wisse er besser Bescheid! In Wirklichkeit kannte er das Ludwigschloss 
nur von einem Bierkrug, der bei seinem Großvater in einer kleinen Vitrine stand, 
wo dieser alles aus seiner Militärzeit vor dem Ersten Weltkrieg andächtig aufbe-
wahrte und von seinen Enkeln verlangte, dass sie es ehrfürchtig bestaunten. Diese 
Dinge tauchten jetzt, da sie einmal nützlich gewesen wären, nur sehr verschwom-
men vor seinem geistigen Auge auf. Die Bergburg der Hohenzollern sah er dagegen 
klar vor sich, denn er war schon öfter in Hechingen; einmal schob er sogar sein 
Fahrrad hinauf, stand geschichtsbewusst vor dem neuen Grab des Alten Fritz und 
brauste dann die Serpentinen hinunter. Bald hatte er jedoch ausgebraust und musste 
wütend wieder schieben, nun sogar bergab, weil ihm ein Schotterstein das Vorder-
rad platt schlug. Nur mit Mühe konnte er damals einen schlimmeren Sturz verhin-
dern; die Hautabschürfungen und der lange, nicht eingeplante Fußweg blieben ihm 
aber in unangenehmer Erinnerung, sodass er fortan diesen Berg lieber mied. Hinauf 
gesehen hat er aber oft und nunmehr das Bild abrufbar klar vor Augen. Somit fühlte 
er sich in der Lage, etwas Ähnliches zu fabrizieren, besonders für Leute, die nicht 
genau Bescheid wussten.  
Als die 'Bauwerke' schon im Entstehen waren, wies jemand von den Älteren auf 
den hier bereits fortgeschrittenen Europagedanken hin; er meinte es spaßig, andere 
griffen die  Idee jedoch auf und begannen, wie immer,  heftig darüber zu debattie-
ren. Schließlich vernahm man als lauteste Meinung, dass Europa 'senza papa' nichts 
sei!  Martin wurde gefragt, ob man in deutschen Schulen noch lerne, dass ehedem 
sogar Kaiser, wenn sie diesen geärgert hatten, reumütig und bußfertig zu ihm pil-
gern mussten und zwar nach Canossa unweit nördlich von Florenz!  Martin wusste 
zwar nur von einem,  bestätigte heute aber auch nachsichtig den Pluralis majestatis, 
weil er spürte, dass hier Widerrede die Stimmung verdorben hätte, und weil es ihm 
auch  schnurz-piep-egal  war;  er  wäre  jedenfalls  nicht  gepilgert,  genau  wie  Bis-
marck, höchstens mit einem ellenlangen Schwert unter dem Büßergewand wie wei-
land Ehud, der Benjaminite, gemäß Buch der Richter! Aber auch diese bissige Be-
merkung verkniff er sich des lieben Friedens wegen. Er schloss sich vielmehr brav 
der Auffassung an, dass bei einem gesamteuropäischen Vorhaben dieser Größen-
ordnung der Papst nun mal nicht fehlen dürfe. 
Aber den Vatikan aus Sand, daran trauten sie sich nicht; man redete sich sogar da-
mit heraus, dass man zu meinen glaubte, man bräuchte dazu wohl die Einwilligung 
des 'Signore Secretario Cardinale' oder wenigstens des 'Prefetto della Casa Pontifi-
cia'! Und dann noch Rom drum herum! Na ja, Rom kann man, Firenze muss man 
gesehen haben!! Wenn sich ihr Michelangelo nicht seiner erbarmte, wäre dort nicht 
viel los. Zum Dank wollten sie ihn sogar 
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Aber so weit war es noch lange nicht. Zunächst verwarf man sämtliche Bau-Ideen, 
die mit Rom zu tun hatten und einigte sich schließlich auf die 'schlichte' Sommerre-
sidenz hoch über dem Albaner See, die samt zugehörigem Städtchen gut bekannt 
schien. Einige Signori waren sogar schon in dem dortigen Empfangssaal, der bis zu 
8000 Gäste bequem aufnehmen könne. Man wusste auch, dass die 'Aula delle Udi-
enza', die Audienzhalle im Vatikan (wie Martin mit Hilfe seines Lilliputs heraus-
fand), bis zu 12000 Eingeladenen Platz bietet, sofern diese ehrfurchtsvoll stehen 
blieben und eng genug zusammenrückten. (Der profane Vergleich mit  Heringen 
wäre vielleicht treffender gewesen; aber offenbar kannten sie diesen Fisch des Nor-
dens nicht!). Martin sollte sich das vorstellen und versuchte es, dachte jedoch ins-
geheim an die 5000, die der Herr bei Tiberias mit fünf Gerstenbroten und zwei Fi-
schen speiste! Aber das geschah an  einem grasigen Berghang und war insofern 
nicht vergleichbar. Die Gegenüberstellung drängte sich ihm nur deshalb auf, weil 
der Papst von sich selbst und seinen Schafen als Stellvertreter Christi auf Erden an-
gesehen wird. Nur die Protestanten wollen das einfach nicht akzeptieren und die 
Chinesen und die Inder und die Japaner und andere von Marokko über Persien Pa-
kistan und Afghanistan auch immer noch nicht. Da müsste mal wieder ein Pizarro 
oder Cortez losgeschickt werden; die würden jene Verstockten schnell 'eines Besse-
ren' belehren! 
Endlich stand die Planung für ein wahrhaft großes, gesamteuropäisches Werk. Alle 
Jugendlichen, die schon buddeln und modellieren konnten, bekamen eine spezielle 
Aufgabe, von den Alten fachmännisch beraten. Die ganz Kleinen mussten mit ihren 
Eimerchen hinunter zu den auslaufenden Wellen rennen und immerfort Wasser ho-
len, von den 'nonnas', die auf Stühlchen unterm Sonnenschirm saßen, aufmerksam 
beobachtet. Damit sollte das Flussbett des Arno gefüllt werden und der Lago Alba-
no zu Füßen des Papstes, eine echte Sisyphusarbeit, weil die salzige Brühe schnell 
versickerte. Andererseits machte es viel Spaß, in dem sandigen Matsch herumzupa-
tschen und die Baumeister beiderlei Geschlechts vollzuspritzen, was immer wieder 
hysterisches Geschrei auslöste, das die Dispute der detailverliebten älteren 'Fach-
leute' an Lautstärke noch übertönte. Jeder und jede wusste es besser; nur Martin 
war an seinem Beitrag Architekt und Baumeister zugleich, niemand redete ihm hin-
ein. Er konnte es sich leisten, irgendwas mit vielen Türmen auf einen kegelför-
migen Sandhaufen zu stellen und als Hohenzollern-Stammburg 'zu verkaufen', wur-
de dafür auch noch staunend gelobt.  
Nachdem die Jugend ihre Aufgabe hatte, bei sorgfältiger Ausführung bis weit über 
den Sommer hinaus, wechselten die Etablierten auf den Bastmatten das Thema: 
Große Politik war endlich mal wieder angesagt, seit vorgestern Europas wegen zu-
rückgestellt. Dabei erhitzten sich die Gemüter derart, dass Martin anfänglich fürch-
tete, die Kontrahenten würden aufeinander losgehen. Es gab nämlich innerhalb des 
Clans deutlich zwei Lager, ein 'römisch-katholisches' und ein 'italienisch-kommu-
nistisches'. Aber der Riss dazwischen ging doch nicht so tief wie es den Anschein 
hatte, mehr wie in den Filmen von Don Camillo und Peppone. Martin hielt sich hier 
heraus, sonst hätte er den sogenannten 'Comunistas' arg vor den Kopf stoßen müs-
sen. Der 17. Juni lag nämlich erst kurz zurück, und er fühlte noch elende Wut im 
Bauch! 
Damals, in der ersten Unterrichtsstunde, fragte sein Chemielehrer, ein vom Krieg 
schwer gezeichneter, heimatloser Ostpreuße, ob sie es schon gehört hätten. Ja, sie 
hatten es gehört und 
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berlin, ihnen zu helfen, auch Martin wäre bereit gewesen. Nein, das ginge leider 
nicht, erklärte der von ihm sehr geschätzte Pädagoge mit Bestimmtheit; die westli-
chen Besatzungsmächte würden an der Zonengrenze keinen hinüber und die Russen 
keinen herein lassen! Daran musste er jetzt denken und es fiel ihm schwer, nicht 
leidenschaftlich in die Diskussion einzugreifen, die hier allerdings durch ihr lokal-
politisches Kolorit weit von der eigentlichen Problematik entfernt lag. 
Dennoch war er heilfroh, als man, wenn auch nicht weniger erregt, zum Thema 
'Fußball' überging: Was da mal wieder alles los war mit den Turinern und Milane-
sen und gar mit Rom und weshalb die eigene Fiorentina so weit unten stehe! Na, 
wenigstens immer noch über dem Süden, Neapel und Palermo erst!! Das wär ja 
noch schöner!!! Im Übrigen lebt man von ruhmreicher Vergangenheit, als die Vio-
letten 1940  die Coppa gewannen im Endspiel gegen Genua! Doch für die nächste 
Saison hofft man sogar auf die erste Landesmeisterschaft unter dem neuen Trainer 
Fulvio Bernadini, 'Il Dottore' genannt; der müsste nur noch dies und das und jenes 
anders machen, den Sturm durch einen Brasilianer verstärken, die Abwehr durch 
einen Deutschen; ja, er sollte auf die Tifosi hören!! Die wissen das alles besser, die-
jenigen, welche wie sie dezent das Vereinswappen auf dem Revers tragen, die Rote 
Lilie von Florenz auf violettem Grund mit den Insignien ACF; man könne Martin 
gern eins beschaffen, wenn er daran interessiert sei. Etwas mühsam erklärte man 
ihm, was diese drei Buchstaben bedeuten, nämlich 'Associazione Calcio Fioren-
tina', wobei 'Calcio' in Italien allgemein 'Ball-Treter' = Fußball heißt.      
Doch dann kam die gerade rollende 'Tour de France' aufs Tapet. Aber wenn Martin 
glaubte, wenigstens hier wären sie sich einig, sah er sich erneut gänzlich getäuscht: 
Mit hochgereckten Fäusten und bereits leicht angerauten Stimmen bekannten sich 
die einen entschieden zu Fausto Coppi, die anderen zu Gino Bartali, und der junge 
Deutsche wurde hart bedrängt, Partei zu ergreifen. Er entschied sich dann schlauer-
weise für Coppi, so wie die immer noch attraktive und temperamentvolle 'mamma'. 
Nein, er hatte es nicht auf diese abgesehen, aber auf ihr noch attraktiveres Töchter-
chen! Dieses war von mehreren zum Familienclan gehörenden pflückreifen 'bellas-
vergines' zweifellos die Schönste, und sie schien erstaunlicherweise noch frei zu 
sein. Die anderen riefen sie 'Gabriél-la', das 'e' stark betonend. 
Allein ihretwegen hielt  sich Martin nun schon länger als  erforderlich bei dieser 
Gruppe auf, trotz der eingestreuten 'Kommunisten', der fast ständigen Präsenz des 
Papstes, der albernen Bauten aus und auf Sand sowie einem rennradelnden Mönch, 
als hätten diese nichts Wichtigeres zu tun. Es schien dem holden Wesen zu gefallen, 
dass seine Augen mehr bei ihr als bei dem 'Castello tedesco' weilten, und lächelnd 
erwiderte sie die Blicke, ihre Umwelt allmählich vergessend. Sie stellten fest, dass 
man sich auf französisch am besten verständigen konnte, was beide in der Schule 
gerade lernten. Damit ging Martin gleich in die Offensive: "So können wir uns hier 
mitten im Getümmel völlig unbelauscht unterhalten, vielleicht sogar Geheimnisse 
austauschen!" Sie begriff sofort und konterte: "Ich weiß noch nicht, ob ich Geheim-
nisse habe; außerdem", warnte sie "versteht meine Mutter innerhalb der Familie am 
besten Französisch!"  Doch dann ergab sich die 'Notwendigkeit', einen geheimen 
unterirdischen  Gang  anzulegen,  damit  die  Hohenzollern  erforderlichenfalls  zum 
Papst fliehen konnten oder dieser zu ihnen, denn die Engelsburg befindet sich in 
ein
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Maulwurfsgrabschaufel tief im Sand auf Gabriellas feines Spitzmäuschenhändchen 
traf, umschlossen sich die beiden lediglich und wollten offenbar nicht wieder loslas-
sen! Vereintes Europa, da war es schon!! Doch daran dachte in diesem wahrhaft 'er-
greifenden'  Augenblick  wohl  niemand,  unsere  beiden Tunnelbauer  am  allerwe-
nigsten. Jedenfalls wurden keine Flaschen geleert und auch das übliche Händeschüt-
teln unterblieb; aber die grobe schwäbische Pranke begann auf einmal ganz, ganz 
sanft  zu  streicheln,  während  das  jungfräuliche  Florentinerpfötchen  mucksmäus-
chenstill hielt, nein, nicht etwa vor Schreck erstarrt, eher wie in  einem heiligen 
Schauder, als habe es so etwas Wunderbares noch nie erlebt; immer fester schloss 
sich das Händchen um die Hand, dass diese kaum noch die Finger zum Streicheln 
bewegen konnte; doch als sie darob gar gänzlich innehielten, lockerte sich der Griff 
sofort, dass Martin förmlich den lautlosen Aufschrei zu vernehmen glaubte: "Nein, 
bitte nicht aufhören, weiterstreicheln, lange, lange, gaanz lange!"  Und Martin folgte 
der dringenden Aufforderung nur zu gern, zumal er mit Inbrunst spürte, wie ihre 
Haut immer blutvoller und samtiger wurde, nachdem er den anhaftenden feuchten 
Sand behutsam zur Seite geschoben hatte. Er fühlte ihren galoppierenden Puls, der 
sich nur zögernd beruhigte, als flüstere er ihr zu: "Hab keine Angst mein Kind, nie-
mand kann es sehen, tief verborgen im dunklen Schoß der Mutter Erde". - "So mag 
sich wohl ein liebeshungriges Maulwurfpärchen treffen, um dann nach kurzem Be-
schnuppern für immer vereint zu bleiben", wollte Martin leise sagen, aber es fehlten 
ihm die erforderlichen französischen Vokabeln. "Weshalb lernt man denn so was 
Wichtiges nicht im Unterricht?!", dachte er schimpfend, wenigstens um Blickkon-
takt bemüht; aber auch der kam nicht zustande, denn Gabriella schaute, tief im Sand 
kniend, stumm lächelnd vor sich hin, wie in Ewigkeit verloren! 
Doch da durchschnitt ein jäher Ruf den Lärm der Strandwelt: "Ga-bri-élla!!" So 
schnell  zuckte  das  liebe  Händchen  zurück,  dass  der mühsam  gegrabene  Tunnel 
wieder einstürzte. Es war die stets wachsame 'mamma', die sich ja nur vergewissern 
wollte, ob ihre Tochter plötzlich verzaubert sei oder bloß vor sich hin träume! Ganz 
sicher beabsichtigte sie nicht, den Fluchtweg zu verhindern, eher wollte sie dessen 
Fertigstellung als dringlich anmahnen. Aber das gelang in diesem Augenblick nicht; 
die beiden so brutal ins profane Leben Zurückgerissenen streikten nun erst einmal. 
Leicht verlegen schauten sie, Martin sogar etwas verärgert, Gabriella eher trotzig-
zornig, eine Weile stumm hinaus aufs Meer, als sei dort soeben ihr Schiff randvoll 
mit jungem Glück versunken! Ihre Hoffnung, sich wenigstens in der dunklen Un-
terwelt ein ganz klein wenig ungestört lieben zu können, hatte getrogen. Aber zwei-
fellos waren sie nun 'bons amis', und dies gedachte Martin an Stelle des blöden 
Papstfluchtweges auszubauen, als er leise fragte, ob sie beide eine kleine Strand-
wanderung unternehmen könnten? Doch sie schüttelte nur traurig den Kopf. "Viel-
leicht einen Bummel auf der Mole?" - " Das ginge wohl", meinte sie geringschätzig 
lächelnd, aber dann würde die ganze Familie mitkommen und überall mit viel und 
lautem Palaver andere begrüßen, die man schon ewig stundenlang nicht mehr gese-
hen hat. 'Ob das in seinem Sinne sei?' - 'Nein', und offenbar auch nicht in ihrem, 
denn sie machte keine Anstalten, den einenden Ruf zum täglichen Pflichtspazier-
gang ertönen zu lassen, der in Viareggio so weit hinaus aufs Meer führt, dass er nur 
selten bis ans Ende gegangen wird, besonders wenn Omas und Opas, wie gewöhn-
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sche Lippen jetzt schon wonneweh auf den seinen brennen! 
Aber er ließ so schnell nicht locker und versuchte es immer wieder mit neuen, be-
zaubernden Ideen: 'Ob sie mit ins Wasser gehe?' - "Si!", und schon sprang sie auf 
und rannte schnell wie eine Gazelle hinunter, bis die Wellen sie umspülten. Nur 
Martin war darauf einigermaßen gefasst und heftete sich unverzüglich an ihre Fer-
sen. So gelang es, erst einmal ohne Gefolge zu bleiben. Er versuchte sie weiter hin-
auszulocken in die menschenärmere Zone. Aber schon ertönte wieder der schnei-
dende Ruf: "Ga-bri-ella!!", und so blieb man, obwohl sie gut schwimmen konnte, 
im brusttiefen, strandnahen Wasser, umgeben von schreienden, planschenden Ba-
denden und hatte bald genug. Nur eine unter die Haut gehende Erinnerung nahmen 
sie mit aufs Trockene: Sie hielten sich, eindeutig nicht nur von ihm herbeigeführt, 
in Rückenlage mit den Fußsohlen mindestens zwanzig endlose und doch viel zu 
kurze Sekunden lang festgepresst und Mama konnte es unter der Wasseroberfläche 
nur ahnen, aber nicht beweisen; denn ihre einander innigst-zärtlich anlächelnden 
Gesichter blieben dabei ja gut zwei Meter voneinander entfernt, und Hermann Löns 
würde dazu sagen: 
                                       'Was das grüne Wasser sah,  
                                      geht die Mutter garnichts an.' 
Und auch das andere schöne Volksliedchen passt gut hierher, so man will: 
                                Wenn ich mein Schatz nicht rufen darf, 
                                                  tu ich ihm winken. 
                                         Ja, winken mit den Äugelein... 
                                               und treten auf den Fuß. 
 
Doch auch dieser Fehlversuch zu mehr Nähe ließ ihn nicht resignieren. Zwar bega-
ben sie sich nolens volens wieder an die 'Bauarbeit', aber das Flüstern und Tuscheln 
wollte  nun  kein  Ende  mehr  nehmen  und  Martin  wurde  dabei  immer  mutiger. 
Schließlich unterbreitete er ihr einen aus seiner Sicht tollen Vorschlag: "Können wir 
uns vielleicht morgen früh da drüben vor dem Zeltdorf am Waldrand zu einem Spa-
ziergang treffen, wir ganz allein?" Zuerst lachte  sie laut auf, als habe er eine ge-
meinsame Reise zum Mond vorgeschlagen. Aber nach kurzer Denkpause verhielt 
sich Gabriella plötzlich recht merkwürdig. Sie sprang auf, stemmte beide Arme in 
die Hüften, beugte sich über den im Sand Kauernden und stieß leise mit sonderbar 
veränderter Stimme hervor: "Wer bist du eigentlich und was hast du mit mir vor? 
Ich bin gerade erst 17!"  Da erhob auch er sich, ernst, wie zu einem Schwur: "Und 
ich bin schon 18½, evangelischer Christ und möchte ein wenig mit dir allein sein, 
werde  aber  bestimmt  nichts  gegen  deinen  Willen  tun -  ma  parole,  parole 
d'honneur!" - "Gut", entgegnete sie nun wieder mit gewohnt leiser Stimme, "gut, 
ich komme! Acht Uhr am Waldrand, dort wo die Straße endet; eine halbe Stunde, 
reicht das?" - "Darüber entscheidest du", antwortete Martin konziliant und über-
glücklich. Dann ging sie zur  Familie zurück, die gerade zum Molenspaziergang 
aufbrach. Die Männer riefen ihm zu, doch mitzukommen. Aber er verwies auf Ver-
pflichtungen im Lager und entfernte sich in entgegengesetzter Richtung. Er wollte 
jetzt, wenn schon nicht mit ihr zusammen, dann lieber allein seine Vorfreude auf 
den kommenden Morgen genießen. 
In dieser Nacht konnte er kaum schlafen. Immer wieder überlegte er, was er ihr al-
les sagen würde. Ganz zurückhaltend wollte er sein, von Deutschland, von zu Hau-
se sowie seiner Schule erzählen und nach der ihren fragen, Adressen austauschen, 
um den künftigen Kontakt zu sichern
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es nicht mehr verhehlen; eventuell zum Abschied ein Küsschen, von ihm aus ledig-
lich auf die Hand oder doch auf die Wange, wenn sie ihm diese hinhielt?  Auf den 
Mund nur, wenn sie es deutlich genug forderte!! 
Natürlich war er am Morgen schon lange vor acht an der vereinbarten Stelle und 
überlegte, welchen Waldweg sie nehmen würden, wenn er entscheiden müsste; aber 
grundsätzlich wollte er das erst einmal ihr überlassen. Von der Stelle aus konnte 
man weit in die Straße zur Stadt hineinsehen. Menschen waren zu dieser frühen 
Stunde noch keine unterwegs, nur zwei streunende Hunde, die eine Katze auf der 
Mauer verbellten. Leider tauchte auch Gabriella nicht auf, weder um acht, noch um 
8.15, noch um 8.30, noch um 8.45. Selbst über 9 Uhr hinaus wartete er, um eventu-
elle irreale Zeitverschiebungen auszuschließen. Um 9.15 gab er sich einen Ruck 
und trat frustriert den Rückzug an. Den Fragen der anderen, die gut ausgeschlafen 
vor dem Zelt beim Frühstück saßen, wich er aus. Zum Glück hatte er vorher nie-
mand etwas von seinem erhofften Glück erzählt. Deshalb konnte er jetzt so tun, als 
habe er nichts weiter vorgehabt, denn allein im Wald herumzulaufen, die Pinien zu 
zählen und den in dieser Jahreszeit weitgehend stummen Vögeln zu lauschen. 
Als er später zum Strand kam, war sie bereits da. Reserviert ließ er sich etwas ent-
fernt nieder. Zögernd kam sie auf ihn zu, während er ihr düpiert fragend entgegen-
sah. Doch ihr Gesicht verriet ihm schnell, dass auch sie eine schlaflose Nacht ver-
brachte hatte. Im Gegensatz zu seiner frohen Erwartung litt sie jedoch offensichtlich 
bereits im Bett verzweifelt unter Scham und Enttäuschung. Es war ihr nämlich am 
Vorabend nicht gelungen, die gestrenge 'mamma' von ihrem Rendezvous zu über-
zeugen; diese lehnte es sogar rundweg ab. 'Im Wald mit ihm allein spazieren gehen, 
noch dazu im verflixten Siebzehnten, das mache man vielleicht in Germania; in Ita-
lia treffe man sich am Strand und zwar nur im sicheren Kreis der Familie!' Selbst 
Gabriellas  Tränen rührten nicht, und als sie gar mit den Füßen aufstampfte, habe 
'mamma' nur noch mehr gestampft: "Solo in spiaggia, basta!", habe sie geschrien. 
Die Schatten in den erneut feucht werdenden Augen des hilflosen Mädchens verrie-
ten Martin, dass sie die Wahrheit sagte, und dass es an der Zeit war, sie wieder auf-
zuheitern: "Da hätte ich ja gestern nicht für Coppi zu stimmen brauchen!", scherzte 
er noch etwas gequält. Erst schüttelte sie kurz verständnislos den Kopf, aber dann 
begriff sie und lachte fast schon wieder fröhlich. "Doch", meinte sie, "das war sehr 
gut so; mamma hat auch überhaupt nichts gegen dich, im Gegenteil, sie findet dich 
'molto gentile e simpatico',  und ich soll dich für heute Abend zum Essen bei uns im 
Garten einladen!" Obwohl sich Martin sehr darüber freute und im Grunde längst 
versöhnt war, allein schon der offensichtlich ehrlichen Tränchen wegen, tat er so, 
als müsste er sich das erst noch überlegen und antwortete lediglich mit einem unbe-
stimmten "hm". Aber als sie fast flehentlich bat, "viens donc!", war das Eis, das sich 
beim vergeblichen Warten in der kühlen Morgenfrische gebildet hatte, völlig ge-
schmolzen. 
Gern beteiligte er sich nun wieder am europäischen Großprojekt. Auch Gabriella  
war deutlich die Erleichterung anzumerken; sie wandte kaum die getrübten Äuglein 
von ihm und ließ sich immer tiefer hineinschauen. Er unternahm keine Versuche 
mehr, sie zeitweilig von der Familie zu trennen, vielmehr sah er ein, dass es nur mit 
dieser ging. Er war akzeptiert und sie konnten sich nah sein; damit musste man sich 
eben zufrieden geben! 'Andere Länder, andere Sitten', dachte er und nahm an die
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und in einem fort "Martino - Martino!" riefen, dass er ihnen nachlaufen und sie 
fangen sollte. Gabriella beobachtete das muntere Treiben mit sichtlicher Freude und 
vernahm gern, dass mamma und andere ihn als einen 'amico ai bambini' bezeichne-
ten. Es kam, wie sie am Vortag angekündigt hatte: Ständig begegnete die fröhliche 
Schar anderen, sich gegenseitig lautstark und wortreich begrüßend, beklatschend, 
umarmend, bejubelnd, abküssend, als sei man zuvor lange durch Länder und Ozea-
ne getrennt gewesen. Da so etwas dauert, zog sich auch der ganze Bummel ziem-
lich in die Länge, was dem nun wieder glücklichen Paar aber nicht mehr viel aus-
machte, Hauptsache man konnte beisammen sein! Die Mole ist in Viareggio ja auch 
die einzige Stelle, von wo man über eine längere Strecke frei aufs offene Meer bli-
cken kann, was man im nunmehr eingetretenen Zustand der beiden besonders gern 
tut, um seiner übergroßen Sehnsucht freien Lauf zu lassen. Die sogenannte 'kilome-
terlange  Strandpromenade'  entlang  der  Hotels  ist  nämlich  gar  keine;  denn  vom 
Strand kann man dort kaum etwas sehen, weil die Sicht aufs Meer fast gänzlich von 
Bagnos, Spiel- und Restaurantgebäuden versperrt wird, ein Musterbeispiel kommu-
naler  Barbarei!  Hinzu  kommt  ärgerlicherweise,  dass für  die  Benutzung  dieses 
Strandes horrende Eintrittsgelder durch christliche Raubritter kassiert werden. Man 
ist im Stadtbereich von Viareggio weit davon entfernt, dass Meer und Strände frei 
zugänglich sind und allen Menschen gleichermaßen gehören! So gesehen ist dieser 
Badeort in der Toskana keine Reise mehr wert. Für Martin stellte sich diese Frage 
allerdings nicht; er war aus anderen Gründen hier. Außerdem spielte sich seine Ge-
schichte mit Gabriella an dem in der Tat noch gebührenfreien Strand südlich der 
Stadt ab, wo die Einheimischen meist unter sich sind, abseits vom Tourismus. 
Als er am Abend zu dem von ihr beschriebenen Haus kam, war dort bereits 'una 
festa in giardino' im Gange. Sie eilte ihm an die Pforte entgegen und gab ihm end-
lich das bereits am frühen Morgen erhoffte Küsschen auf die Wange,  das er wie 
selbstverständlich erwidern durfte. Ihr Vater stand in der Haustür und rief ihm ein 
freundliches "benvenuto!" zu. Die weitere Vorstellung bei den Gästen übernahm 
dann allerdings die 'mamma' als 'padrona de la casa'. Was sie dabei in herrlich vo-
kalisiertem Italienisch  temperamentvoll sagte, verstand Martin nur bruchstückhaft. 
Von einem 'tedesco'  aus dem Lager des 'movimento giovanile europeo'  am Stadt-
rand sprach sie, ihre Tochter nirgends erwähnend; doch nutzte sie eine Gelegenheit 
des Alleinstehens, um ihm, nach vorsichtigem Blick über die lebhafte Palaverrunde, 
mit verhaltener Stimme zu gestehen, dass sie während des Krieges auch mal einen 
jungen Deutschen geliebt habe, selbstverständlich total anständig, 'asolutamente'. 
Er sei dann 1944 am Monte Cassino gefallen. Seinetwegen habe sie viel gebetet 
und geweint. Als Martin ihr daraufhin erzählte, dass er sich damals als 10jähriger 
Junge sehnlichst wünschte, bei jenen Fallschirmjägern dabei zu sein, rollten tat-
sächlich ein paar Tränen über die gepflegten Wangen und sie verschwand für eine 
Weile. Auf diese Weise erfuhr er also, dass Gabriella bereits mehr für ihn empfand, 
als sie ihm bisher verraten hatte und ihr vielleicht selbst schon bewusst war. 
Der junge Deutsche wurde dann regelrecht unter den Anwesenden herumgereicht; 
seine zwanzig Italienischwörter pries man höflichkeitshalber als 'schon erstaunlich 
gut', während die Gegenseite mit ähnlichen Englisch- oder mäßigen Französisch-
kenntnissen 'glänzte'. Auch die deutschen Brocken wurden immer wieder tief aus 
der überwie
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dung. Ihre nun wieder ungetrübt strahlenden Augen ließen ihn jedoch selten los, 
und es muss auch trotz dieser Zurückhaltung ein wunderbarer Abend für sie gewe-
sen sein.  Zum Abschied - es war Martins vorletzter Tag in Viareggio - gab es al-
lerdings erneut Tränen, aber andere, von Herzen kommende sowie eine innige Um-
armung und sogar einen echten Kuss sensationelle fünfzig Meter jenseits der Gar-
tenpforte; hin und zurück machte das satte hundert, denn selbstverständlich ließ er 
nicht zu, dass sie 'mammaseelenallein' zurückging; das macht man vielleicht in Ita-
lia, nicht in Germania, basta! 
Am folgenden Tag fand der geplante Schiffsausflug nach Elba statt, Abfahrt früh-
morgens, Rückkehr erst spät abends; also keine Möglichkeit mehr, sich zu sehen. 
Die Insel war damals touristisch noch wenig erschlossen. In der Nähe des Hafens 
von Portoferraio sammelte sich die zunächst etwas ratlose Gruppe an einem Kies-
strand vor kristallklarem Wasser. Man wollte gemeinsam zur 'Villa Napoleone' im 
Innern des Eilandes wandern; wusste aber den Weg nicht. Da lag eine einsame Sig-
norina in der Nähe auf einem Polster mit selbstverständlich hochanständigem Bikini 
in der Sonne; von ihr wollte man Rat einholen. Weil aber keine Verständigung zu-
stande kam, winkte man den Martin mit seinem Lilliput heran. Dieser glaubte zu-
erst, es sei Gina, seine aus Pubertätstagen Ferngeliebte, an deren Busen er damals 
so innig lutschte (s. S.106). Doch diese Vorstellung gab er bald auf; so sehr er sich 
auch um sie bemühte - ein anderer aus seinem Zelt,  ebenfalls, wenn auch erfolglos, 
in Gabriella verknallt, wollte es sogar bei dieser anbringen - sie wusste einfach 
nichts mit Napoleon anzufangen. Das konnte 'seine' Gina nicht sein!    
Vier hochinteressante Tage verbrachte die Jugendgruppe anschließend in der 'Ewi-
gen Stadt'. Was hatte Martin nicht alles von Rom gehört, gelesen, auf Bildern be-
staunt, nun erlebte er es, jung und weit offen für all die grandiosen Eindrücke, un-
vergesslich! Auf der Rückfahrt hielt der Zug noch einmal kurz in Viareggio. Es war 
wieder ein heißer Nachmittag. Zwar hatten die beiden Verliebten ihre Adressen aus-
getauscht, aber versäumt, den Halt seines Zuges mitzuteilen; so konnte er nicht hof-
fen, sie wenigstens für ein paar Minuten wieder zu sehen. Vielleicht hätte Mama das 
sogar erlaubt! Wehmütig blickte er in Richtung Strand; ob sie wohl an den Sand-
burgen baute und dabei seiner gedachte? Womöglich grub sie gerade an dem Tunnel 
und hoffte träumerisch, auf seine Hand zu treffen? Ob ihr nicht bereits ein anderer 
im  unterirdischen  Gewölbe  die  Finger  entgegenstreckte?? Aber  nein,  so  schnell 
vergisst man auch in Italien nicht! Und tatsächlich, kaum war er wieder zu Hause, 
erreichte ihn schon ein erstes Briefchen, entgegen der Absprache, dass er damit be-
ginnen sollte. Lieb schrieb sie, beglückend lieb! Er spürte, wie sehr sie von der Er-
innerung an die gemeinsamen Stunden zehrte und in der Hoffnung lebte, ihn bald-
möglichst wieder zu sehen! Martin antwortete sofort im gleichen Sinne. Und so 
pflegten sie ihre innige Freundschaft eine geraume Zeit lang. 
Doch dann machte sie plötzlich ernst, spielte dabei jedoch Roulette, setzte aber auf 
die falsche Nummer, nämlich eine schwarze, eine rabenschwarze sogar! Eigentlich 
stand in jenem verhängnisvollen Schreiben in einem einzigen Satz alles, von banger 
Hoffnung bis zu herztraurigem Verzicht: "Je t'aime, cher Martin, mais je n'aime pas 
ta religion." 
Der also Geliebte konnte es kaum fassen! Da hatte er seine Gretchenfrage, nicht in          
einem vom Dichterfürsten fabulierten Drama, sondern in voller Lebenswirklichkeit. 
Entscheiden sollte er s
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nicht, selbst wenn sie noch so fromm ist! Dann schließt sie den Ersehnten in ihre 
Gebete ein und hofft, ihn eines Tages 'bekehren' zu können, aber setzt ihm nicht 
derart die Pistole auf die Brust! Doch wer steckte hinter diesem satanischen An-
schlag, wohl gipfelnd in dem drohend-drängenden Rat: 'Jetzt kannst du es noch 
schaffen,  ihn und dich vor dem Fegefeuer zu bewahren,  später nicht mehr! Dann 
seid  ihr  beide  auf  ewig  verdammt  und  verloren!    Gabriellas  Mutter  konnte  es 
schwerlich gewesen sein; sie fragte ja nicht einmal nach seinen Familienverhältnis-
sen, fand ihn einfach auch 'gentile',  so wie er war als 'Martino';  ob 'San' oder nicht, 
schien ihr ziemlich gleichgültig zu sein; schließlich schenkte sie ihm ein Ausmaß an 
Vertrauen, über das er nur staunen konnte! Nicht bloß dass diese kluge Frau fein-
fühlig bereits vor ihm erkannte, vermutlich sogar vor ihrer Tochter selbst, dass die-
se sich ernsthaft in ihn verliebt hatte, sie verriet es ihm auch, obwohl sie bestimmt 
wusste, dass er andersgläubig ist; denn danach fragt eine erfahrene Italienerin bei 
einem Deutschen bald, und er ließ es Gabriella schon beim ersten Zusammentreffen 
am Strand unmissverständlich wissen, bekannte es damals so laut, dass die stets 
hellhörige und wachsame Mama es eigentlich hören musste! Ohne ihn trotzdem 
uneingeschränkt zu schätzen, hätte sie ihn wohl kaum in die Familie eingeführt, 
ihm doch kein eigenes Herzensgeheimnis anvertraut, das nicht einmal der Gatte 
wissen durfte, wie ihr vorsichtiger Blick in dessen Richtung verriet. Nein, diese 
großartige Frau kam für Martin nicht als 'Advocatus Diaboli' in Betracht! 
Aber er brauchte nicht lange nachzudenken,  um diesen im dunklen Versteck aus-
findig zu machen! Zwar würde er ihn am liebsten für alle Zeit hinter Gitter bringen; 
aber zuerst gilt es, ihn hinter solchen hervorzuzerren, zu entlarven und in Gottes 
lichtvoller Welt dieser neuerlichen Untat wegen an den Pranger zu stellen!   
 
Doch um das zu verstehen, muss man einen tiefen Blick auf Martins Herkunft, 
Kindheit und Jugend werfen, was ohnehin geschehen muss, will man ihn begreifen!
 
 
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In der Toskana

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